Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 42. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Carmen, liebe Schwester, Du willst den Jonathan nicht zum Manne? Du überlegst wohl nicht, was Du da sagst,“ mahnte Agathe.
„Doch, Schwester Agathe,“ antwortete Carmen schnell, die großen leuchtenden Augen fest auf sie richtend. „Weißt Du, wie es ist, wenn man den kalten Leib einer Schlange berührt. Wie ich als kleines Mädchen noch auf der Plantage des Vaters war, da sah ich eines Tages unter einer Agave einen grün schillernden Zweig liegen und als ich begierig darnach faßte, war es der kalte, feuchte Leib einer Schlange, die bei meiner Berührung emporschnellte und sich behende um meinen bloßen Arm ringelte. Ich konnte vor Entsetzen nicht schreien, vor Grauen kein Glied bewegen, Sara aber, die getreue Schwarze der Mutter, sah es; sie riß mir die Viper vom Arme und schleuderte sie weit fort in's Gebüsch. Schwester Agathe, wenn Bruder Jonathan mir naht, fühle ich denselben Schauer mich durchrieseln, dasselbe Entsetzen meine Glieder lähmen, wie damals, als die Schlange meinen Arm umringelte. Ich könnte ihn nicht um mich sehen, täglich, stündlich – ich könnte es nicht ertragen, zu ihm 'mein Gatte' sagen zu müssen – ich könnte es um Alles in der Welt nicht.“
Carmen hatte immer lebhafter und erregter gesprochen – athemlos schwieg sie jetzt.
„Nicht um Alles in der Welt, aber um Deines Heiles willen mußt Du es können; stoße Dein Heil jetzt nicht thöricht von Dir!“ warf Agathe verweisend ein. „Als Bruder Jonathan's Weib wirst Du die Gehülfin seines tugendreichen Lebens, seines werkthätigen Strebens sein. Wir sind nicht auf dieser Erde, daß wir uns im Wohlleben freuen, sondern daß Jedes das Reich Gottes fördern helfe und in sich ein Kirchlein des Herrn erbaue.“
„O Schwester Agathe, glaube mir doch, mit Freuden will ich Krankenpflegerin werden und Mühen und Lasten solchen Berufes tragen, aber Eines erspare mir: Bruder Jonathan anzugehören! Nein, das kannst, das darfst Du nicht von mir verlangen,“ wehrte sich das Mädchen mit hervorbrechenden Thränen.
„Nun, Carmen, ich zwinge Dich ja nicht, obwohl es mir leid ist um Deinetwillen,“ sagte Agathe, indem sie aufstand. „Gehe nun hin zum Gebet, und prüfe dort Dein Herz vor dem Herrn, auf daß Du nicht von Dir stößest, was Dir zum Heil ist!“
Und Carmen auf die Stirn küssend, entließ sie dieselbe.
Es war die Zeit zu dem täglichen Abendgebet, aber Schwester Agathe zögerte noch immer. Das milde Licht der Lampe beschien ihr kummervolles Gesicht – sie blickte sinnend vor sich hin.
„Was sich doch für Gedanken in diesen Kindskopf drängen!“ flüsterte sie. „Vielleicht – sie könnte Recht haben – – Eitelkeit! Wie mich dieses Wort von ihr erschreckt hat! Man kann sich nicht genau genug kennen und kennt doch gewöhnlich Andere mehr, als sich selbst. Das Kind hat mir eine harte Lehre gegeben. Ich muß mich ernster prüfen, muß strenger mit mir sein, ehe ich Andere berathen und führen kann, Herr, mein Erlöser, hilf Du mir zur rechten Erkenntniß, wo es mir noththut!“ Sie löschte die Lampe aus und begab sich nach dem Betsaal zu den versammelten Schwestern.
Eine Woche war hingegangen, und die Bewegung, welche durch Bruder Daniel's Abreise hervorgerufen worden, hatte alsbald wieder der stillen Arbeitsamkeit und den gewöhnlichen religiösen Uebungen Platz gemacht.
Leicht war diese kurze Zeit Adelen nicht geworden; das Aufgeben des eigenen Naturells und das völlige Sicheinfügen in eine ihr so fremde Lebensart fiel ihr schwer, keines unter den jungen Mädchen ihrer Umgebung erweckte ihre Sympathie – Carmen ausgenommen; die Vorliebe, welche die Mutter für das Mädchen empfand, hatte sich schnell auch der Tochter mitgetheilt, und Carmen's warmes, dankbares Herz, das so ergriffen war von der Güte, welche Frau von Trautenau ihr bewiesen hatte, glaubte Adele nicht freundlich genug begegnen zu können. Ihr lebhaftes, heiteres Wesen, das, unbeirrt durch die sie umgebende Abgemessenheit und Stille, immer frisch und natürlich hervorsprudelte, wurde eine wirkliche Wohlthat, ein Halt und Trost für Adelen. Mit leidenschaftlicher Schwärmerei umfaßte und liebte diese das schöne Mädchen, und der erste Brief, der von ihr nach Hause gelangte, erging sich ausführlich über Alles, was Carmen betraf. Sie erzählte, wie diese ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert habe und daß sie nun am Häubchen die Rosaschleife trage, statt der feuerrothen; Carmen habe jetzt den Unterricht der Kinder in der englischen Sprache übernommen, und Alle freueten sich auf die neue Lehrerin; Alle liebten sie so sehr.
Carmen's heitere Gemüthsruhe war durch das, was Schwester Agathe ihr in Betreff Bruder Jonathan's eröffnet hatte, durchaus nicht gestört und beunruhigt worden. Schwester Agathe hatte sie zwar am andern Morgen noch einmal gefragt: ob ihr nicht die rechte Einsicht im Gebet gekommen sei und nun eines
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_681.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)