Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 41. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Wir brauchen vielen Raum,“ erklärte Schwester Agathe im Vorwärtsschreiten, „da wir, außer für die Zöglinge, auch Platz haben müssen für alle die ledigen Schwestern unserer Gemeinde, die nicht Glieder einer Familie sind und hier alle beisammen leben und arbeiten. Ja selbst die, welche einer Familie angehören, kommen zu uns, ihre freien Stunden hier zu verbringen.“
So sprechend, geleitete sie ihre Gäste aus dem Erdgeschosse in das obere Stockwerk hinauf, aus einem Raume in den andern. Alle waren schlicht und einfach eingerichtet. Die bescheidene Tracht der Schwestern mit dem weißen Häubchen, ihr fleißiges, ruhiges Beschäftigtsein, trotz des Festtagsmorgens, ihr leiser Gang, ihre gedämpfte Sprache, die tiefe Ruhe im Hause – all dies hatte beinahe etwas Klösterliches.
Schwester Agathe führte auch in ein gemeinsames Arbeitszimmer. Es war ein weiter, saalartiger Raum. An langen Tischen saß eine Menge von Mädchen mit theilweis fremdartigen Physiognomien, ganz junge und nahezu erwachsene in bunter Reihe, mit Handarbeit oder Schreiben beschäftigt. Die Aelteren schienen die Jüngeren zu beaufsichtigen und in den Arbeiten zu unterweisen; unter jenen befand sich das junge Mädchen, welches die Fremden hergeführt hatte.
Alle erhoben sich bei dem Eintritte der Gäste von ihren Plätzen und setzten sich dann schweigend wieder nieder.
„Hier finden Sie unsere lieben Zöglinge und die Kinder unserer Gemeindeglieder beisammen. Aus den fernsten Colonien und Missionen werden sie uns zur Erziehung hergesendet und lernen schnell, sich bei uns heimisch zu fühlen, so fern ihr Elternhaus auch ist. Liebe Schwester Marie,“ wendete sich die Chorälteste jetzt an eines der Mädchen, „willst Du einmal Frau von Trautenau sagen, wo Du geboren bist?“
Die Angeredete, ein kleines Mädchen mit olivenfarbiger Haut und schwarzen, stechenden Augen, erhob sich bei diesem Anrufe, als sei sie an einer Schnur emporgezogen worden, und antwortete: „Aus Paramaribo in Surinam;“ dann sank sie wieder auf ihren Stuhl zurück.
„Und Du, liebe Schwester Geneviève?“
„Aus St. Jean in Westindien.“
„Liebe Schwester Sascha?“
„Aus Sarepta in Rußland, Gouvernement Saratow.“
„Liebe Schwester Jacobe?“
„Aus Batavia auf Java.“
„Liebe Schwester Carmen?“
Wie alle Vorhergenannten erhob sich auch Carmen, als Schwester Agathe ihren Namen aufrief, von ihrem Platze – aber nur ein wenig, als geschähe es in unwillkürlicher Regung des Gehorsams, nur dann, wie zufolge von Ueberlegung, sofort sich wieder niederzulassen. Sie hatte bei der ganzen vorhergegangenen Scene mit peinlicher Aufmerksamkeit bald Frau von Trautenau, bald deren ältesten Sohn betrachtet und auf dem Gesichte des Letzteren gelesen, wie höchlich ihn dieses Aufstehen, Hersagen und Zurücksinken der genannten Mädchen amüsire. Jetzt, als ihr Name genannt wurde, übergoß eine dunkle Röthe das schöne Antlitz Carmen's, und sie blieb die Antwort schuldig.
„Liebe Schwester Carmen?“ wiederholte die Chorälteste, als habe Jene das erste Mal den Ruf nicht verstanden.
„O bitte –“ kam da Frau von Trautenau begütigend zu Hülfe, als sie die peinliche Verlegenheit des Mädchens sah. Sie strich ihr freundlich mit der Hand die krausen Löckchen aus der Stirn zurück, die sich so eigenmächtig unter dem Rande des weißen Häubchens hervorgedrängt hatten. „Lassen Sie es gut sein! Ich höre schon an dem lieblichen Namen, daß ihre Wiege in Spanien, wenn nicht in einem noch ferneren, schönen Himmelsstriche gestanden hat. Ist es nicht so, liebes Kind?“
Es lag so viel zarte Schonung für das durch diese Art von Schaustellung verletzte Gefühl des Mädchens, so viel mütterliche Güte in dem Tone und der Art, womit Frau von Trautenau zu ihr sprach, daß Carmen, tief ergriffen davon, sich schnell auf die freundliche Hand herabbeugte und einen Kuß darauf drückte.
„Ja, so ist es,“ sagte sie, die Dame mit ihren dunklen Augen voll kindlicher Demuth anblickend, „ich bin im schönen Westindien, auf der Insel Jamaica geboren.“
„So weit sind Sie von der Heimath entfernt?“ fragte Frau von Trautenau. „Sind Sie schon lange hier in der Colonie?“
„Ja, sehr lange. Mit dem neunten Jahre bin ich von meinem Vater zur Erziehung hierher gesendet worden; denn meine Mutter war schon vorher gestorben, und mein Vater hat ein Jahr nach mir Jamaica auch verlassen, um nach Ostindien zu gehen – ich habe ihn nicht wieder gesehen, ja nicht einmal wieder von ihm gehört.“
Carmen hatte dieses leise gesagt, und ihre Stimme zitterte wie unter verhaltenen Thränen.
„Armes Mädchen, wie sehr beklage ich Sie deshalb!“ entgegnete
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_665.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)