Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
beiden Mördern auch die übrigen Mitglieder der Falschmünzerbande zu verhaften, sodaß man mit Recht sagen kann, dieser Beamte habe noch im Tode der öffentlichen Sicherheit einen erheblichen Dienst geleistet.
Die Verhandlungen vor dem Schwurgerichte ergaben weiter, daß nur die Rache und die Furcht, zum zweiten Male durch ihn an der Fortsetzung ihrer verbrecherischen Thätigkeit gehindert zu werden, als die Ursachen zur Begehung der That zu betrachten seien.
Da die übrigen Mitglieder der Bande der Mordthat völlig fremd waren, so kamen sie mit langjähriger Galeerenstrafe davon; die Geschworenen erkannten Antonio des Mordes und Giuseppe der Anstiftung zum Morde schuldig – wie in Italien zur Vermeidung der gesetzliche Todesstrafe fast regelmäßig geschieht: unter Annahme „mildernder Umstände“, ein Verdict, aus welchem sich die Verurtheilung der Beiden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe von selbst ergab.
Der bekannte, vielberufene „Fluch der bösen That“ zeigt sich im Leben des alten Giuseppe in seiner vollen, fürchterlichen Kraft; die Kette, welche das erste kleine Unrecht, das in den Augen des Thäters nicht einmal ein Unrecht, sondern nur die nach seiner Meinung nicht ungerechte Abwälzung eines von einem „Forestiere“ ihm widerfahrenen Unrechts auf einen anderen „Forestiere“ war, die Kette, sage ich, welche jenes erste kleine Unrecht mit dem entsetzlichen Entschlusse zum Morde verbindet, liegt in diesem Falle so klar, wie selten sonst, zu Tage. Aus jenem ersten kleinen Unrechte entsprangen alle folgenden Verbrechen und schließlich nach altitalienischer Sitte „la vendetta contra la spia“, die Rache am spionirenden Beamten.
Jüngst kam ich an von Flandern und Brabant.
So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk – und auch
Ein gutes Volk – und Vater dieses Volkes,
Das, dacht’ ich, das muß göttlich sein!
Diese Worte Schiller’s kamen mir in den Sinn, sowie ich die belgische Grenze überschritten, und oft mußte ich ihrer in den Tagen gedenken, da ich in Belgien geweilt. Es ist wunderbar, mit wie wenig Worten unser großer Dichter das Land und das Volk zu kennzeichnen verstanden, und wie vollkommen richtig zugleich. Wie er im Tell die Natur der Schweiz gemalt, als ob er lange in derselben gelebt, wie er im Wallenstein mit poetischer Anschauung das Richtige geahnt, noch ehe die nachfolgenden Untersuchungen ihm Recht gegeben, so hat er auch in Bezug auf die Niederlande ein historisches Denkmal von größter Wahrheit geschaffen. Mir sagte ein alter General, der sich jetzt in einem Städtchen nahe bei Brüssel niedergelassen hat und dort das Bürgermeisteramt verwaltet: „Ich lese Ihren Schiller fortwährend, und seinen ‚Abfall der Niederlande‘ kenne ich auswendig; es ist wunderbar, mit welcher Treue und wie wahr Alles geschildert und erzählt ist, und ich, als alter Militär, bewundere noch besonders die absolute Richtigkeit aller seiner taktischen Angaben.“
Und dieses schöne Land, dieses edle Volk feierte jetzt seine fünfzigjährige Befreiung von einer vielfach wechselnden Fremdherrschaft, unter der es Jahrhunderte lang geschmachtet, bis das Jahr 1830 ihm durch Lossagung von Holland die lang ersehnte Freiheit gab.
Es war dies die Zeit, wo einmal wieder die Göttin der Freiheit ihren Triumphzug durch Europa hielt, wo der Thron der Bourbons in Frankreich gestürzt, wo Griechenlands Unabhängigkeit anerkannt wurde und wo das unglückliche Polen eine neue, schnell in Blut ertränkte Hoffnung schöpfte. Damals erlebte die Welt auch das wunderbare Schauspiel, daß selbst die katholische Geistlichkeit sich dem Liberalismus anschloß und daß französische wie belgische Kleriker erklärten, an das Gesetz der Vernunft und des Fortschritts zu glauben. Alle stimmten den fundamentalen Forderungen dieser Zeit bei: Freiheit des Glaubens, des Unterrichts, der Association und der Presse.
In Brüssel versammelte sich der Nationale Congreß und entwarf die Verfassung, ein ebenso kühnes, wie erhabenes Werk, auf das Belgien stolz ist. „Der König regiert, aber er herrscht nicht.“ Dieses Wort ist hier zur Wahrheit geworden. Und König Leopold der Erste hatte den Muth und das Vertrauen, die Krone dieses Landes anzunehmen, sowie die Weisheit, sich getreu an die Bestimmungen der Constitution zu halten. Das Volk aber ehrte und liebte ihn darum von ganzem Herzen, und sein Sohn, der jetzige König, ist der Erbe dieser edlen Gesinnungen seines Vaters, sowie der schwärmerischen Liebe des Volkes geworden. Letztere sprach aus allen kleinen Zügen wie aus allen großen Festen, die ich dort gesehen, ebenso wie die dankbare Erinnerung an den Verstorbenen, den Gründer dieser Dynastie.
Viele kleine Züge coursiren als Zeugnisse, wie Leopold der Zweite, der stets populär, nie vulgär zu werden und sich in heiterer, ungezwungener und doch stets königlicher Weise unter seinem Volk zu bewegen versteht, die Bestimmungen der Verfassung zu wahren gesonnen ist. Als z. B. bei dem „patriotischen Fest“ die Sonne arg brannte, erlaubte er den Ministern, wie seiner ganzen Umgebung, sich zu bedecken. Der Ministerpräsident Frère-Orban trat zu einer Meldung, den Hut auf dem Kopfe, an den König heran, sich mit den Worten entschuldigend: „Auf Ihren Befehl, Sire!“ – „Halt,“ unterbrach ihn der König, „das Wort kann ich nicht annehmen; es paßt nicht in unsere Institutionen!“ Denn der König von Belgien befiehlt eben nicht – er führt nur aus. Es ist dies aber ein goldenes Wort, das wohl der Aufbewahrung werth ist.
So führt Belgien seit fünfzig Jahren ein glückliches Leben, keine besonderen Unruhen, selbst im Jahre 1848 nicht, haben seinen Frieden gestört – nur der Culturkampf ist auch dort mit großer Härte aufgetreten. Aber die Freiheit daselbst hat gesiegt, das geistige Leben Belgiens ist nur desto mehr angeregt worden, was der Umstand beweist, daß bei manchen Wahlen neunzig Procent der eingeschriebenen Wähler erschienen – ungebeugt steht der Staat der Kirche gegenüber und vertheidigt siegreich sein Recht gegen dieselbe.
Und auch von socialistischer Seite hat Belgien nichts zu fürchten, obgleich es vorzugsweise ein Land der Industrie, der großen Fabriken, der Arbeiterbevölkerung ist. Mitten in den Festtagen wurde in Brüssel ein socialistisches Meeting abgehalten – 4000 bis 5000 Teilnehmer hatten sich versammelt – aber das Ganze verlief ruhig und ohne daß, außer den Betheiligten, eine Seele es für der Mühe werth hielt, sich darum zu kümmern.
Die Jubelfeier Belgiens dauerte vom Juni bis zum September – eine so weit gegriffene Spanne Zeit, daß wohl Keiner, wenigstens kein Fremder, sich dürfte rühmen können, den sich drängenden Festlichkeiten vom Anfange bis zum Ende des Programms beigewohnt zu haben. Ich selbst traf in Brüssel ein, nachdem der erste internationale literarische Congreß sowie die Eröffnung der verschiedenen Ausstellungen vorüber waren, also im Anfange des Augusts, und zwar zu den Sitzungen des „Congrès littéraire belge“, welche am 12. jenes Monats eröffnet wurden.
Schon beim Eintritt in das Land, gleich von Verviers an, entzückte mich der Anblick dieser dichten und doch so wohlhabenden Bevölkerung und der herrlichen Landschaft; in malerischer Lage, im üppigen Grün und von herrlichen Bäumen umgeben, Flecken und Dörfer; überall freundliche, saubere Häuser, alle massiv gebaut, alle mit Ziegeln gedeckt; wenig Landwirthschaft, viel Gartenbau und am meisten Fabriken – das ist der Charakter dieses Landstrichs. Beim Anblick desselben aber begreift man auch leicht, daß die Volksdichtigkeit hier eine sehr große sein muß, und in der That kommen auf die Quadratmeile in Belgien 9511 Menschen, in Deutschland dagegen 3906, und nur der Regierungsbezirk Düsseldorf, das am meisten bevölkerte Stück des deutschen Reichs, nähert sich mit 9000 Seelen pro Quadratmeile etwa der belgischen Durchschnittszahl. Trotzdem ist die Zahl der jährlich Auswandernden eine verhältnißmäßig geringe.
Es ist hier nicht der Ort, eine Beschreibung von Brüssel zu geben; nur das Eine will ich sagen, daß mich diese Stadt mit ihren schönen breiten Straßen, ihren Boulevards, Parks, und Palästen, ihren hochinteressanten alten Baulichkeiten wie ihren neuen architektonischen Meisterwerken, diese Stadt voll bewegten Lebens
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_660.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)