Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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Sie schreitet, unbekümmert um die Launen und Vorurtheile des Tages, ihrem hohen Ziele entgegen, sicher, daß eine ernste, gerechte und unparteiische Forschung nur zu Ergebnissen führen kann, welche das Glück, nicht das Unglück der Masse verbürgen. Die Entwickelung der deutschen Socialwissenschaft bietet, wie Roscher sagt, das Bild eines überaus reichen, vielseitigen Lebens, voll reifer Früchte und hoffnunggebender Blüthen dar. Mit raschen Schritten holen wir auf diesem Gebiete den Vorsprung anderer Völker ein. Werke, wie das monumentale Lehrbuch der politische Oekonomie von Adolf Wagner und Erwin Nasse, wie Held’s socialpolitische Arbeiten, die ebenso mannigfaltig wie verdienstvoll sind, wie Brentano’s lehrreiche Darstellung der englischen Gewerkvereine, Samter’s gelehrte und gründliche Untersuchungen des Eigenthums in seiner socialen Bedeutung, Scheel’s fein- und scharfsinnige Forschungen über den innern Kern der modernen Arbeiterfrage – um nur wenige von vielen trefflichen Namen zu nennen – enthalten eine Fülle der reichsten und tiefsten Belehrung, an welcher kein gebildeter Mann mehr achtlos vorübergehen sollte.
Hoffen wir, daß die Wissenschaft eine wirksamere Bahnbrecherin des socialen Friedens sein wird, als die Politik hat sein könne oder wollen! Drohend und ernst ist die Lage; in allen Gliedern der europäische Welt spukt das sociale Fieber. Vergebens sucht der laute Lärm des Tages das Grollen der unterirdischen Vulcane zu übertönen. Verhängnißvoller denn je schwankt die Wage der Weltgeschicke. Die heute athmen und leben, werde das Ende der nahenden Kämpfe nicht mehr sehen; erst auf ihren Gräbern werden die entscheidenden Würfel fallen. Aber ihr Thun und Lassen wird in erster Reihe maßgebend sein, ob die größte Frage des neunzehnten Jahrhunderts in friedlichen und glücklichen Fluß kommt oder nicht, ob auf unseren Tagen dermaleinst ruhen wird der Fluch oder der Segen der kommende Geschlechter.
Es muß ein seltsamer Herr gewesen sein, der sich auf der wüsten Landscholle an der Vereinigung der Nolte und Dahme zwischen Sumpf und Haide vor Jahrhunderten sein festes Haus erbaute. Seltsamlich, fast mürrisch starrte auch bei unserem Besuche, den wir von Berlin aus mittels der Görlitzer Eisenbahn dem etwa drei Meilen in südöstlicher Richtung entfernten Flecken Königs-Wusterhausen abstatteten, der alte Schloßbau auf uns herab. Die beiden hohen Ziegeldächer zu beiden Seiten des hervorspringenden runden Thorthurms trugen eine mächtige Schneelast; auch die Bäume, welche theils in größeren und kleineren Gruppen, theils einzeln, sich von dem nahen Forste bis an das Schloß hinziehen, ließen ihre beschneiten und mit Eiszapfen behangenen Zweige schwer herniederhängen und sahen aus wie bezopfte Riesen. Ringsum herrschte tiefe Stille und der alle Bau glich in dieser Vereinsamung mehr einer verzauberten alten Burg, als einem kaiserlichen Lust- und Jagdschlosse der Gegenwart.
Als die Hohenzollern von der Mark Brandenburg Besitz ergriffen, fanden sie das Schloß – das, wie die Tradition berichtet, zur Zeit des Lützelburger Karl's des Vierten als einstöckiger fester Bau mit Zinnen und Wartthurm dem jetzt ausgestorbenen Geschlechte von Torgau gehörte – bereits in der jetzigen Gestalt und im Besitze der Familie von Schlieben. Ob auch die Schlieben von dieser Burg aus ähnlichen Neigungen nachgingen, wie ihre Zeit- und Standesgenossen, die Quitzow, die Rochow und die Edlen Gänse zu Putlitz oder wie jene späteren, die das Volkssprüchlein nennt: die Köckeritz und Lüderitz, die Itzenplitz und Kracht – darüber verlautet nichts Gewisses. Jedenfalls änderten sich die Zeilen bald, und Wusterhausen ging gegen Erde des fünfzehnten Jahrhunderts in die Hände der Schenk von Schweinsberg über. Allmählich hatten aber auch die Hohenzollern die herrlichen Wusterhäuser Forsten und ihren Wildreichthum schätzen gelernt. König Friedrich der Erste kaufte die Herrschaft Wusterhausen (1697) von seinem Staatsminister von Jena, um dieselbe seinem damals zehn Jahre alten Sohne, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, zu schenken, der sich schon in seiner Jugend als ein tüchtiger Jäger erwies und manches schöne Stück Wildpret in den Wusterhäuser Forsten erlegte.
Das stille Wusterhausen wurde der Lieblingsaufenthalt des Prinzen. Hier war er nicht mehr an das lästige Ceremoniell gebunden, welches ihm am Hofe seines Vaters verhaßt war. Hier konnte er die zierlich gekräuselte Allonge-Perrücke, die von Goldbrokat strotzenden Kleider der Berliner Hoftracht von sich werfen und im einfachen Jagdkleide durch Wald und Fluren streifen oder dem edlen Waidwerke nachgehen; hier fand er in einem großen, wohlverschlossenen Schranke in langen Linien seine Gewehre aufgestellt, die, sämmtlich spiegelblank, von vorzüglicher Güte und Schönheit waren. Hier errichtete sich der Prinz seine eigene Jagdcompagnie, auf deren militärische Ausbildung er bald seine ganze Sorgfalt verwandte. Die zu den größeren Jagden aufgebotenen Treiber aus Wusterhausen und den Nachbardörfern – meistens junge, zehn- bis fünfzehnjährige Bursche – wurden militärisch in Reih und Glied gestellt. Sie vertauschten die Stöcke, mit denen sie sonst durch die Waldungen klapperten, mit kleinen hölzernen Gewehren und empfingen den Prinzen beim Beginn der Jagd, indem sie nach den unzähligen künstlichen Tempos des damaligen Reglements das Gewehr präsentirten. Dreißig der größten und ansehnlichsten Bursche wurden militärisch bekleidet mit weißen Stiefeletten, Beinkleidern und Kamisolen und von dem Prinzen selbst einexercirt. Fehler im Exerciren oder in der Propretät wurden von ihm mit Arrest oder mit dem Stocke bestraft, den er bald meisterlich handhaben lernte.
Diese dreißig jungen Jagdgardisten wurden in drei Glieder rangirt; das erste Glied, in welchem die größten standen, erhielt Grenadiermützen, das zweite und dritte Füsiliermützen. So bildete sich an dieser Duodezarmee jener soldatische Sinn heran, der Friedrich Wilhelm’s Regierung zu einer, wenn auch nicht vorzugsweise kriegerischen, doch zu einer durchweg militärischen gestalten sollte. Unter jenen dreißig Wusterhäuser Jagdsoldaten wuchsen fünf zu einer ungewöhnlichen Leibesgröße heran. Diese bevorzugte der Kronprinz ganz besonders, stellte sie seinem königlichen Vater, wenn dieser zur Jagd nach Wusterhausen kam, mit Stolz vor, und an ihnen zeigte sich zuerst seine merkwürdige Vorliebe für „lange Kerle“, die nach und nach sich zu einer ihn völlig beherrschenden Leidenschaft entwickelte. Als Friedrich Wilhelm (im Jahre 1709) den Feldzug in Flandern mitmachte, nahm er einen Theil dieser seiner Spielsoldaten mit in’s Feld, und als er (1713) den Thron bestieg, wurden die sämmtlichen dreißig Wusterhäuser dem ersten Bataillon des Leibregiments einverleibt, desselben Regiments, welches unter der Bezeichnung der „großen Potsdamer Garde“ bald eine europäische Berühmtheit erlangte. Die Tradition hat auch die Namen Einiger der ersten großen Wusterhäuser Jagdsoldaten aufbewahrt. Sie nennt vor Anderen den langen Strux und den lange Rasemann, deren Nachkommen noch heute in Gräbendorf bei Wusterhausen leben, unter den Stammvätern jener weltberühmten Potsdamer Riesengarde.
Unter König Friedrich Wilhelm dem Ersten änderte der Ort auch seinen Namen. Das alte Wendisch-Wusterhausen ward nun in Königs-Wusterhausen umgetauft und zugleich zum Hauptorte des Kirchspiels erhoben – eine Neuerung, mit welcher sich übrigens der Particularismus der Nachbardörfer nicht einverstanden erklärte; ja, die Einwohner der letzteren wollten lieber ganz vom Gottesdienste zurückbleiben, als nach Königs-Wusterhausen in die Kirche gehen. So geschah es, daß der König mit der königlichen Familie und den wenigen Personen seines Hofstaates einige Sonntage außer dem Pfarrer und dem Küster die einzigen Anwesenden beim Gottesdienste waren. Aber Friedrich Wilhelm hatte seine Mittel, um die Leute zum Kirchenbesuche anzuhalten. Er ließ einige Compagnien Grenadiere in die übrigen Dörfer des Kirchspiels – Schenkendorf, Deutsch-Wusterhausen, Hoher-Löhme, Nieder-Löhme, Senzig und Zeesen – als Einquartierung legen und befahl, daß am nächsten Sonntag die Grenadiere sämmtlich ihre Wirthsleute mit in die Kirche bringen sollten. So geschah es, daß die Leute buchstäblich in die Kirche „getrommelt“ wurden. Nachdem dies einige Sonntage nach einander wiederholt worden, gewöhnten sie sich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_538.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)