Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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hat, als die Socialdemokratie. Selbst wenn ohne ihr Zuthun arbeiterfreundliche Einrichtungen in’s Leben traten, stand sie denselben feindlich oder mindestens gleichgültig gegenüber, so beispielsweise den Fabrikinspectoren; „ihre Blätter,“ schreibt klagend einer dieser Beamten, „haben ihre Leser über die hauptsächlich zum Besten der Arbeiter getroffene Einrichtung zu belehren nicht für nöthig oder zweckmäßig gehalten.“ Einzig die von der Partei gegründeten Gewerkschaften haben den Arbeitern nicht blos faule, sondern auch gesunde Früchte gespendet, allein einerseits wurden diese Vortheile wieder aufgewogen durch die unnützen Strikes, die von denselben Vereinen angezettelt wurden, und andererseits haben dieselben das, was sie leisten, nicht geleistet, weil, sondern obgleich sie socialdemokratischen Ursprungs waren. Nicht die Socialdemokratie schuf eine gesunde Einrichtung, sondern eine gesunde Einrichtung war selbst durch die Socialdemokratie nicht völlig zu verderben.
Was hat sie nun aber in Wahrheit den Arbeitern geboten? Nichts als eine wahrhaft hündische Schmeichelei, wie sie nicht leicht verhängnißvoller von kriechenden Höflingen gegen bethörte Fürsten geübt werden mag; nichts als im besten Falle die flachsten Eitelkeiten der Welt, die unfruchtbarsten Lärm- und Spectakelscenen. Straßenkundgebungen, wie der große Leichenzug bei dem Tode des Arbeiters Heinsch in Berlin, lächerlich-widerwärtige Ketzergerichte, wie sie vor einem Tribunale von ungebildeten Handarbeitern über Mommsen’s römische Geschichte gehalten wurden, tosende Volksversammlungen, wie diejenigen etwa, in denen Herr Most und Herr Stöcker – ein edles Brüderpaar – in rüstigen Fäusten das Banner der geflissentlichen Volksverdummung schwangen – das waren die Steine, welche die socialdemokratische Agitation den Arbeitern statt des Brodes gab.
Doch diese Dinge, so schlimm sie erscheinen, waren nicht das Schlimmste. Ungleich verderblicher wirkte die gänzliche Verrohung und Verrottung, die man in den Gemüthern der Arbeiter hervorzurufen suchte, um sie fähig und willig für eine gewaltsame Revolution zu machen. Denn hierauf und auf nichts Anderes lief die ganze Agitation hinaus.
Heutzutage faseln die Demagogen zwar viel von ihren „friedlichen“ und „gesetzmäßigen“ Absichten, während noch vor wenigen Jahren der „Volksstaat“ das Streben nach einer „ruhigen Entwickelung des Staatslebens“ als einen „offenen Verrath an der Arbeitersache“ vervehmte. Nichts scheint rührender, als wenn die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten mit einer zitternden Thräne an der Wimper sich als Opfer der gräulichsten Verleumdung hinstellen, weil man sie geplanter Gewalt beschuldigt, aber tatsächlich ist nichts komischer. Ihnen mag es gestattet sein, heute zu leugnen, was sie gestern behauptet haben, aber einstweilen sind sie die Werkzeuge von Marx, der sein ganzes System wie seine ganze Taktik auf den gewaltsamen Umsturz berechnet und seit mehr als dreißig Jahren keine passende oder unpassende Gelegenheit versäumt hat, diese Thatsache mit dem ganzen Nachdrucke seines unfehlbaren Prophetenthums hervorzuheben.
Für solchen Zweck nun wurde, um die arbeitende Bevölkerung in gewissenlos-schlauester Weise vorzubereiten, jeder schwächste Faden zu zerstören gesucht, der sie mit ihrem Vaterlande und ihrem Volke verband. Hörte man die socialdemokratischen Redner und Zeitungen, so war nicht nur die heutige Wirthschaftsordnung auf Betrug und Raub gegründet, sondern die ganze deutsche Geschichte eine albern-boshafte Intrigue von Betrügern und Narren, Luther ein „bornirter Pfaff“, Melanchthon ein „fistelnder Schleicher“, Schiller ein „reactionärer Phrasendrescher“, Goethe ein „serviler Hofpoet“, die großen Feldherren unserer Geschichte „Gurgelabschneider“ und „Landsknechte“, ganz zu geschweigen der niederträchtigen Beschimpfungen, mit denen die großen Heerführer und Staatsmänner unserer Tage überschüttet wurden. Unter Strömen von Koth sollte Alles begraben werden, woran sich die Ehre des deutschen Namens knüpft, um jede Spur menschlicher Scheu aus den Herzen der Arbeiter zu reißen.
In ähnlicher Weise wurden die sittlichen Grundlagen der modernen Cultur zu untergraben gesucht. Die Religion war ein leerer Humbug, erfunden von Betrügern, um Narren zu bethören, die Vaterlandsliebe ein verhüllender Schleier für Raub und Mord, die Ehe eine staatlich concessionirte Prostitution, die Wissenschaft eine feile Dirne des Volksverraths, die Schule eine Verdummungsanstalt im „Dienste gegen die Freiheit“, die Presse ein einziger Reptiliensumpf der Verderbniß, der Reichstag – nach einem anmuthigen Ausdrucke Liebknecht’s – ein Haufe von Junkern, Apostaten und Nullen, der als Puppe am Drahte eines Menschen und Recht verachtenden Staatsmanns tanzt. Jeder Gegner der Partei war ein Narr oder Schuft; wagte irgend ein Bürger, in einer Versammlung oder einer Zeitung gegen die Socialdemokratie zu sprechen, so wurde er alsbald in seiner privaten Ehre und Stellung böswillig und verleumderisch angegriffen; man erfand ein förmliches System des Terrorismus, um jeden Widersacher von vornherein abzuschrecken.
Dies etwa waren nach ihren allgemeinsten Umrissen die Gegenleistungen der socialdemokratischen Agitation für die großen Opfer, welche der deutsche Arbeiterstand ihr brachte. Es kam darnach, was kommen mußte. Die mit vollen Händen den Wind säeten, ernteten den Sturm, früher, weit früher, als die von ihnen geplagte Welt hoffte, und als sie selbst fürchteten.
(Schluß.)
Röhr, das „sichtbare Oberhaupt des Rationalismus", wie er damals genannt wurde, konnte mit dem derben Bauernverstand, der ihm eigen war, Hase’s Eigenthümlichkeit am wenigsten begreifen. Einer felsenfesten Abgeschlossenheit in freisinnigen Grund- und Glaubenssätzen, die alles Gefühlsmäßige, nicht vor dem Verstand zu Rechtfertigende von sich stieß, stand hier ein feiner, milder Sinn gegenüber, der jeder religiösen Ueberzeugung gerecht würde und selbst in religiösen Verirrungen gern den edlen Kern erkannte. Besonders ärgerte den alten Herrn eine von Hase in Pelt’s und Mau’s Studien gebrauchte Bezeichnung: Rationalismus vulgaris (gemeiner Rationalismus). Aber die Hase’sche Totalauffassung der Kirchengeschichte überhaupt, die milde Beurtheilung oder halbe Vertheidigung aller kirchengeschichtlichen Erscheinungen, welche Röhr verabscheute, veranlaßten den Weimarischen Generalsuperintendenten, in seiner kritischen Predigerbibliothek den jungen Professor ernstlich zu rüffeln, ja ihm mit schlimmeren Censuren zu drohen. Dem setzte Hase eines seiner glanzvollsten Werke, den „Anti-Röhr“ gegenüber, einen Protest religiösen Gefühlslebens und wissenschaftlichen Freisinnes gegen das Flachverstandesmäßige und Unwissenschaftliche des Rationalismus, welcher sich geschichtlich abgewirthschaftet habe.
Dies zeigte sich gerade damals. Denn ein Jahr nach dem Erscheinen der Kirchengeschichte (1835) brach der Geistersturm los, auf den Hase’s Auftreten die Weissagung gewesen war. Gerade aus der gläubigen Facultät Tübingen, die einst Hase verübelt, daß er nur die menschliche und nicht auch die göttliche Natur Christi in Betracht ziehe, ging David Friedrich Strauß hervor, der, was Hase einst in zarter Scheu nur angedeutet, mit dem ganzen Rüstzeug Niebuhr’scher Kritik und Hegel’scher Logik bewaffnet, schonungslos durchführte, indem er die neutestamentliche Lebensgeschichte Jesu fast ganz als Mythe darstellte. Im selben Jahre begann der Tübinger Lehrer von Strauß, der große Dogmenhistoriker Baur, welcher erst nach Hase’s Abgang an die Schwaben-Universität gekommen war, seine Kritik der Echtheit der neutestamentlichen Schriften und erwies zunächst die Unechtheit der Pastoralbriefe. Und doch war bis dahin Baur’s Gläubigkeit, mindestens in Tübingen, nie bezweifelt worden, und Justinus Kerner’s Seherin in Weinsberg hatte Strauß geweissagt, daß er nie ungläubig werden könne! Gleichzeitig gingen aus dem unmittelbaren Kreise Hegel’s das bahnbrechende Werk Vatke’s, der das ganze alte Testament als unhistorisch oder nur sehr zweifelhaft historisch verkündete, und die Untersuchungen Benary’s, welche die Siegel von der Offenbarung Johannis lösten, hervor. Den „Gläubigen“ stand der Verstand still. Die „Ungläubigen“ aber – vornehmlich das junge Deutschland – jubelten. Gutzkow nannte bereits die Evangelien abgestandene Fischersagen. Die Junghegelianer betrachteten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_505.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)