Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 30. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der nächste Tag brachte unfreundliches Herbstwetter. Nebel und Staubregen hüllten die Landschaft ein; an den Blumen und Gesträuchen zeigten sich die Spuren des ersten Nachtfrostes.
In Ettersberg steckte die Dienerschaft die Köpfe zusammen und fragte, was denn eigentlich vorgefallen sei; denn vorgefallen war etwas, das stand fest. Gestern Nachmittag, bei dem Besuche der Brunnecker Herrschaften, war noch Alles Heiterkeit und Eintracht gewesen; aber bald darauf, von dem Augenblicke an, wo der junge Graf aus dem Zimmer seiner Mutter gekommen war, herrschte eine völlige Zerstörung.
Der Graf hatte sich seitdem eingeschlossen und wurde nicht wieder sichtbar. Die Gräfin war, wie die Kammerfrau behauptete, sehr krank, ließ aber Niemand zu sich und hatte sogar verboten, den Arzt zu rufen. Baron Heideck endlich hatte heute Morgen schon zweimal vergebens versucht, Einlaß bei seinem Neffen zu erlangen. Auch für ihn blieb die Thür geschlossen. Je weniger man im Schlosse an Familienscenen gewöhnt war, desto freieren Spielraum hatten die Vermuthungen, die freilich auch nicht annähernd das Richtige trafen.
Jetzt war es beinahe Mittag geworden. Heideck hatte soeben einen dritten Versuch gemacht, zu dem jungen Grafen zu gelangen, aber auch diesmal ohne Erfolg. Der alte Eberhard stand rathlos und bestürzt neben dem Baron, der jetzt mit voller Entschiedenheit sagte: „Ich muß zu meinem Neffen, koste es was es wolle. Es ist unmöglich, daß er dieses Pochen und Rufen überhören kann. Es muß irgend etwas passirt sein.“
„Ich habe den Herrn Grafen unaufhörlich auf- und niedergehen hören,“ wandte Eberhard ein. „Erst seit einer halben Stunde ist es drinnen still geworden.“
„Gleichviel!“ erklärte Heideck. „Er kann in Folge seiner Wunde einen neuen Blutverlust, eine Ohnmacht gehabt haben. Es bleibt nichts Anderes übrig, als die Thür mit Gewalt zu öffnen.“
„Vielleicht gäbe es noch ein anderes Mittel,“ sagte Eberhard zögernd. „Die kleine Tapetenthür, die von der Garderobe des Herrn Grafen nach dem Schlafzimmer führt, ist wahrscheinlich nicht verschlossen; wenn wir –“
„Und das sagen Sie erst jetzt?“ unterbrach ihn Heideck heftig. „Warum erfuhr ich das nicht schon heute Morgen? Zeigen Sie mir sofort den Zugang!“
Der alte Diener ließ den Vorwurf schweigend über sich ergehen. Er glaubte nicht an den Vorwand von Ohnmacht und Blutverlust, mit dem man das gewaltsame Eindringen decken wollte; denn er hatte deutlich die Schritte seines jungen Gebieters gehört, aber auch gefühlt, daß dieser um jeden Preis allein sein wollte. Jetzt freilich blieb nichts übrig, als den Zugang zu zeigen, der sich in der That als unverschlossen erwies.
Heideck winkte dem Diener, zurückzubleiben, und ging allein zu seinem Neffen, indem er die kleine Tapetenthür sorgfältig hinter sich verriegelte. Das Schlafzimmer war leer, das Bett unberührt. Mit raschen Schritten trat der Baron in das anstoßende Wohngemach, und unwillkürlich entrang sich seiner Brust ein erleichternder Athemzug, als er Edmund erblickte. Er hatte einige Minuten lang das Aergste gefürchtet.
„Edmund, ich bin es,“ sagte er halblaut.
Es erfolgte keine Antwort. Der junge Graf schien die Schritte des Nahenden nicht vernommen, die Anrede nicht gehört zu haben. Er lag auf dem Sopha, das Gesicht in die Polster gedrückt, wie todtmüde hingeworfen. Die Stellung verrieth jene tödtliche Erschöpfung, die als ein Rückschlag nach der äußersten Anstrengung einzutreten pflegt.
„Wie konntest Du uns so ängstigen!“ sagte Heideck in vorwurfsvollem Tone. „Dreimal bin ich heute schon vergebens an Deiner Thür gewesen und habe mir endlich halb mit Gewalt den Eingang erzwingen müssen.“
Auch diesmal kam keine Erwiderung; Edmund verharrte in seiner unbeweglichen Stellung. Der Oheim trat näher und beugte sich über ihn.
„So gieb mir doch wenigstens eine Antwort! Du bist gestern Abend wie ein Wahnsinniger davon gestürzt, ohne zu hören, ohne Dich halten zu lassen. Hoffentlich bist Du jetzt ruhiger geworden und kannst mich wenigstens anhören. Ich komme eben von Deiner Mutter –“
Dieses letzte Wort schien endlich einige Wirkung zu äußern. Edmund zuckte leise zusammen und richtete sich empor; aber Baron Heideck fuhr erschrocken zurück bei seinem Anblick.
„Um Gotteswillen – was ist Dir? Wie kannst Du Dich so niederwerfen lassen?“
Die Züge des jungen Grafen waren in der That so verändert, daß man ihn kaum wieder erkannte. Der Blitzstrahl, der ihn getroffen, hatte mit einem Schlage alle Lebenskraft und allen Lebensmuth vernichtet; das zeigten seine erloschenen Augen und der Ausdruck völliger Gebrochenheit in Haltung und Sprache, als er erwiderte:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_481.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)