Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1880) 437.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

der einen Proceß gegen seinen – gewöhnlich durch eigene Schuld – störrisch gewordenen Körper gewinnen will, immer den vertrauenswürdigsten Heilsbeistand wählen.

Ob nun die innere Metallotherapie wirklich die ihr von Burq beigelegte Wichtigkeit habe, ist schwerer und jedenfalls erst nach langer Erfahrung zu beurtheilen. Unmöglich wäre es ja nicht, wenn es auch nicht sehr wahrscheinlich klingt. Im Uebrigen will derselbe gewisse äußere Beweise von der Wirksamkeit der durch Metalloskopie ermittelten Metallarzneien auf die Nervenzustände darin gefunden haben, daß bei ihrem Gebrauch die äußere Metallarmatur im entgegengesetzten Sinne wirke und unter Umständen Empfindungslosigkeit (Metall-Anästhesie) hervorbringe. Ob sich aber nicht hierbei unter die thatsächlichen Wirkungen eingebildete mischen, wird sehr schwer zu ermitteln sein. So ist die Wiederkehr der Empfindlichkeit für die verschiedenen Farben in der Reihe Roth, Gelb, Grün, Blau nicht aus inneren Gründen, wohl aber darum verdächtig, weil diese Eigenthümlichkeit in einer Zeit bemerkt worden ist, in welcher die vermeintliche historische Entwickelung des Farbensinns beim Menschen vielfach in allen Zeitungen besprochen und – nebenbei bemerkt – von dem Unterzeichneten zuerst gründlich widerlegt worden ist. Ueber die Wahrheit gerade dieser Aussagen lassen sich keine Controllversuche machen, weil die Kranken angeben, das Auge werde nie ganz unempfindlich, wie z. B. die Haut, sie behielten immer einige Fähigkeit, Licht und Dunkel, sowie allgemeine Umrisse zu unterscheiden; wir sind also in dieser Farbenfrage einzig auf die nicht eben große Glaubwürdigkeit der Kranken angewiesen.

Was aber bei allen möglicherweise unterlaufenden Täuschungen diesen Versuchen ein tieferes Interesse verleiht, ist weniger die medicinische Bedeutung, als eben der Umstand, daß sich hier Wege eröffnen, durch verschiedene physikalische und chemische Mittel die Nerventhätigkeit zu beeinflussen und mit ihr in Wechselwirkung zu treten. Daß man dabei von anomalen Zuständen ausgehen muß, ist kein Beweis gegen den Werth der Sache: schon viele wichtige Fragen der Physiologie und Nervenphysik sind durch anomale Zustände, Verwundungen, und Krankheitsprocesse aufgeklärt worden, und andere Fragen wurden dadurch zuerst angeregt. Die Forschung steht hier vor Problemen, die nur eine ebenso vorurtheilsfreie wie höchst behutsame und vorsichtige Untersuchung entschleiern kann.

Carus Sterne.



Die abenteuerliche Geschichte vom falschen Dimitry.
Von Johannes Scherr.[1]


1. Warum und wieso der Schwindel möglich war.

Eines Winterabends im Jahre 1584 trat Iwan der Vierte (Wassiljewitsch), Zar aller Reußen, genannt „der Henker“ oder „der Schreckliche“, auf die „rothe“ Treppe des Kremlin zu Moskau hinaus, um lange zum Firmament emporzustarren, allwo zwischen den Kuppeln und Thürmen der Kirche Iwans des Großen und der Kirche der Verkündigung ein Komet sichtbar war mit kreuzformartigem Feuerschweif. Der Zar wandte sich endlich ab, bekreuzte sich und murmelte vor sich hin: „Das bedeutet meinen Tod.“

Bald darauf erkrankte er schwer. Aus Lappland herbeigeholte Schamanen-Zauberer vermochten dem Uebel nicht Einhalt zu thun. Am 10. März von 1585 berief er den Bojarenrath und ließ sein Testament aufsetzen, kraft dessen er die Thronfolge seinem Sohne Feodor zutheilte und inbetracht der Blödsinnigkeit desselben einen Regentschaftsrath bestellte, bestehend aus den beiden Knäsen (Fürsten) Iwan Schuisky und Iwan Mstislawsky, sowie den drei Bojaren (Großbarone) Bogdan Bielsky, Nikita Juryew und Boris Godunow. Am 18. März starb „der Schreckliche“ und säuberte mittels seines Todes den Erdball vom größten Scheusal, welches zu tragen dieser jemals verdammt war. Denn überblickt man das Wüsten und Wüthen dieses Dämons, ja fasst man auch nur die von ihm veranstalteten „Opaly“ (Durchwurfelungen oder Ausmerzungen des Volkes) ins Auge, mit deren Gräueln verglichen die Schrecken der französischen Revolotion harmlose Kinderspiele waren, so könnte man unschwer zu dem Glauben kommen, die „allgütige Mutter“ Natur hätte in ihrer grausamsten Laune dieses Unthier geschaffen, um eine fürchterliche Probe anzustellen, was alles die Menschen sich gefallen ließen und bis zu welcher bodenlosen Tiefe der Niedertracht die sklavische Feigheit der Völker hinabreichen könnte.

In unseren Tagen ist es bekanntlich zur „wissenschaftlichen“ Mode geworden, den Unterschied von gut und böse, Recht und Unrecht, Tugend und Laster, Verdienst und Verschuldung zu verwischen und einem grundsatzlosen Geschlechte das ohnehin schon sehr geschwächte Gefühl der Verantwortlichkeit vollends aus der schlaffen Seele zu schmeicheln mittels der materialistischen Theorie, daß die Gefühle, Gedanken und Thaten des Menschen schlechterdings nur Produkte seiner physischen Anlagen und Eigenschaften wären. Laster, Frevel und Verbrechen müßten daher für unumgängliche Schlußfolgerungen aus natürlichen Prämissen angesehen werden, für Abnormitäten, und demnach Lasterhafte, Frevler und Verbrecher nur für mitleidswerthe Kranke, für Gestörte, für Wahnsinnige. Es ist recht verwunderlich, daß diese modische Theorie, welche sich ja auch schon spürbar genug in die Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege eingeschlichen hat und, wenn erst in ihrem ganzen Umfange verwirklicht, die menschliche Gesellschaft unfehlbar in den aller Verantwortlichkeit baren Zustand der Bestialilät zurückentwickeln wird – ja, es ist recht verwunderlich, daß diese schöne Theorie nicht auch schon von irgendeinem „wissenschaftlichen“ Modisten auf Iwan den Schrecklichen angewandt und also an dem „grausen“ Zaren, wie er beim Lermontow heißt, eine der jetzt so beliebten „Rettungen“ verübt wurde. Freilich, ein leichtes Stück Arbeit würde der „Retter“ nicht haben. Denn wenn ihm der Nachweis, daß Iwan der Henker von Haus aus ein Wahnsinniger gewesen, nicht allzu schwer werden dürfte, so vermöchte doch keine Trübung der Quellen und keine sophistische Dialektik die Thatsache aus der Welt zu schaffen, daß in dem Wahnsinn des Zaren Methode gewesen ist und der „Grause“ seiner Absichten und Zwecke sich sehr wohl bewußt war.

Wie ein rother Faden, nein, wie ein rother Blutstrom windet oder wälzt sich durch Iwans Gräuelherrschaft der Staatsgedanke, mittels Gründung der zarischen Autokratie, des zarischen Absolutismus höchster Potenz die moskowitische Reichseinheit her- und festzustellen, welche bislang durch die Machtstellung des Bojarenthums stark beeinträchtigt worden war. Allerdings ist der Zar häufig genug Henker um der Henkerlust willen gewesen, allerdings trieb er die grässliche Wollust der Grausamkeit bis zum raffinirtesten Kitzel; aber den angegebenen Grundzug seiner Politik hat er selbst in den wildesten Orgien der Entmenschung so wenig vergessen, als er desselben in den tollen Uebertreibungen der „gottesdienstlichen“ Uebung seiner „Frömmigkeit“ jemals vergaß. Denn selbstverständlich war der vierte Iwan sehr „fromm“, das heißt allem Aberglauben der orientalisch-russischen Kirche leidenschaftlich zugethan, ganz wie Ludwig der Elfte von Frankreich „fromm“, das heißt allem Aberglauben der occidentalisch-römischen Kirche fanatisch ergeben war. Man könnte überhaupt Iwan den Vierten den aus dem Französischen ins Russische übersetzten Ludwig den Elften nennen. Denn im ganzen und großen spielte der Zar im 16. Jahrhundert in Russland die Rolle, welche der König im 15. Jahrhundert in Frankreich durchgeführt hatte. Beide haben, jeder in seinem besonderen Stil, die Adelsherrschaft gebrochen und die absolute Monarchie begründet.

Kein Zweifel, das russische Volk erkannte in dieser Gründung eine Wohlthat, wenigstens instinktmäßig. Daraus mag sich das Unglaubliche und doch fraglos Wahre erklären, daß die Russen diesem Wüthrich, der die Grausamkeit bis zu unerhörten Thaten wilder Wuth oder auch bis zur raffinirtesten Qualenaustiftelung

  1. Wir benutzen diese willkommene Gelegenheit, um auf die soeben erschienene zweite durchgearbeitete und vermehrte Auflage von Johannes Scherr’s vortrefflichem Werke: „1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“ (Leipzig, Otto Wigand) hinzuweisen. Eine eingehende Besprechung widmeten wir dieser in mehrfacher Hinsicht so bedeutsamen Leistung, der jüngsten des hervorragenden Geschichtsschreibers, bereits in unserer Nr. 24 von 1879.               D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_437.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2023)