Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
sie Ring an Ring; selbst die Blitze des Himmels vermochten ihnen nur tiefe Narben in die mächtigen Leiber zu schlagen, der Sturm nur ihre Kronen zu brechen; immer noch stehen sie unentwegt, und voll Scheu blicken wir zu den Ehrwürdigen empor.
Der Deutsche vergleicht deutsches Leben gern der Eiche; sie hauptsächlich ist ihm der nationale Baum, und ein tiefer Sinn liegt diesem Vergleiche zu Grunde: wie ein eigenwilliger, eigensinniger Individualismus, im Einzelnen wie im Stamme, den Deutschen charakterisirt und ihm zum Segen wie zum Unheil geworden ist, so giebt es allerdings keinen Baum, der diesen Charakter in höherem Grade sein Eigen nennen könnte, als die Eiche; jede Wurzel, jede Furche des Stammes ist ein Charakter; jedes Blatt hat seine krause Eigenart; jeder Ast springt in eigensinnigen, trotzigen Windungen vom Stamme ab. Die Aufgabe, einen ganzen Wald solcher uralter Charaktere schildern zu wollen, wäre unmöglich zu lösen; wir müssen uns darauf beschränken, Einzelnes herauszuheben, und hier stehen wir wieder rathlos vor dem mächtigen Reichthume an Formen und Gestaltungen rings um uns: Wurzeln, bald wie eine Riesenklaue in den Boden geschlagen, bald wie eherne Pfeiler den Stamm stützend, bald wie ein aufbäumendes Thier scheinbar daran emporkletternd; Stämme in allen möglichen Formen, mit tiefgefurchter, von Rillen zerrissener Rinde, zwischen den Streifen derselben Knorren, alte Astansätze, Aststumpfe, auf denen neuer Samen Wurzel geschlagen, oder klaffendschwarze Höhlungen, aus denen der Sturm den Ast mit Stumpf und Stiel gebrochen hat. Ganz besonders wunderbar aber gestalten sich die Risse, welche durch den Frost oder anderweite Verletzungen der Epidermis entstanden sind und um welche Jahrhundert auf Jahrhundert eine neue Schicht gelagert hat, sodaß sie jetzt als Wülste erscheinen, die eingesprengten Felsblöcken gleichen. Interessant ist es übrigens, daß die hier und da herabhängenden Stücken der Epidermis, so lange sie, wenn auch nur durch ein schwaches Band, mit dem Stamme zusammenhängen, Jahrhunderte lang der Fäulniß widerstehen, während sie, losgelöst, binnen weniger Jahre zerfallen.
Und nun das Astwerk! Indem die Eiche immer die Entwickelung der Nebenknospe begünstigt, entstehen jene fabelhaften phantastischen Bewegungen und Verschlingungen der Aeste, die wir schon an jeder einzelnen Eiche bewundern – man denke sich nun die wilde Mannigfaltigkeit in diesem knorrigen Eichenhaine!
Hier bäumt sich ein Ast hinaus und greift dann, plötzlich geradeaus schießend, in das Astwerk des Nachbars; dort wächst ein anderer in sanfter Biegung aus dem Stamm hervor, neigt sich hinunter zu den schmeichlerisch emporrankenden Brombeerbüschen und springt dann plötzlich mit höhnischem Schwunge steil nach oben, wo ihn ein Nachbar in den tollsten Schlangenwindungen förmlich anzufallen scheint. Ganz besonders malerisch sind die kahlen, von jeder Rinde entblößten und oft fast blank polirten Aeste, welche wie die Knochen eines Gerippes, ein Bild des Todes, aus dem frischen, lebendigen Grün hervorragen. Ein großer Theil derselben ist hohl; manchmal fährt man erschrocken herum; denn dicht hinter Einem ertönt ein laut durch den Wald schallendes Klopfen – aber nichts ist zu sehen. Da ertönt es wieder, und nun entdecken wir zu unserem Erstaunen, daß ein winziger Specht das Geräusch hervorbringt; der Ast, auf dem er hämmert, ist durch und durch hohl, und seine Wände sind so dünn, daß er bei seinem gewaltigen Umfange wie ein riesiger Resonanzboden das schwache Picken des Vogels als lauten Schall weit hinaus in den Wald sendet.
Neben den kraftstrotzenden Bäumen aber stehen die Stumpfe sterbender und abgestorbener voll melancholischer Poesie. Gleich dem Menschen, welcher die sterblichen Ueberreste der Seinigen mit Blumen zu schmücken pflegt, hat die Natur ihre modernden Kinder mit einem lieblichen Geranke von Epheu, wilden Rosen, Brombeergebüschen und Farrenkräutern umwoben; ringsum in weitem Umkreise liegt dann roth und braun ausgestreut der sogenannte Ulm, die Asche dieser Riesen, der, wenn ihn ein verlorener Sonnenstrahl trifft, in der tiefumschatteten Umgebung wie glühende Kohlen leuchtet. Wunderbar gestaltet sich der Eindruck, wenn die inwendig durchaus hohl gewordenen Bäume noch aufrecht stehen. Die schönste dieser Art ist „de holle Eek“, welche unser Bild zeigt, ein Baum von ungewöhnlich interessanten Formen, dessen bis in die Aeste hinaufragender weitklaffender Spalt in das Innere wie in eine Höhle blicken laßt. Um den riesigen Umfang dieses Baumes ganz zu würdigen, muß man wissen, daß das Innere desselben nicht weniger als acht Personen zu beherbergen vermag.
Zur weiteren Erläuterung der Größenverhältnisse der Hasbruchbäume diene noch folgende heitere Geschichte, welche einem Bauer aus der dortigen Gegend passirte. Diese Bauern haben nämlich das Weiderecht in dem Walde; bald begegnet man einer Stute, die mit ihrem Füllen die duftigen Waldkräuter abgrast, bald Kühen, einzeln oder in einem Trupp, welche den Fremden mit großen Augen anblicken und sich ihm neugierig nähern, um bei der ersten Bewegung desselben mit hochgehobenem Schwanze in den Wald hinein zu galoppiren. Alle haben Glocken um den Hals, wenn man die alten klappernden Blechbüchsen so nennen darf; sinkt die Sonne, so hört man sie von verschiedenen Seiten wie auf Verabredung den heimathlichen Höfen zueilen. Es sind dies auch die eigentlichen thierischen Bewohner des Hasbruch; denn Wild giebt es dort keines mehr; nur das Geschlecht Reinecke ist zahlreich vertreten, und dann und wann sieht man einen Bussard mit breitem Flügelschlage gleich einem dunkeln Schatten durch den Wald streichen. Eine jener Kühe nun kam eines Abends nicht mit nach Hause, und der Besitzer machte sich andern Tags daran, sie zu suchen, aber vergeblich; kreuz und quer durchforschte er den Hasbruch – er fand sie nicht; ihre Spuren verloren sich in der Nähe eines jener umgestürzten Riesen. Manchmal hatte er schon ein sonderbares Getön gehört; jetzt erklang es unmittelbar vor ihm, als käme es aus dem Baume heraus; er spähte hinein, und siehe da, in dem hohlen Stamme, ziemlich weit drinnen, knieete die Kuh wie eine büßende Magdalena – Gott weiß, welcher Versucher das „fußnachschleppende Rindvieh“ dahinein gelockt hatte. Kurz, sie war darin, und was das Schlimmste, man konnte sie in keiner Weise aus ihrem Gefängnisse erlösen; es blieb also nichts übrig, als ihr Futter und Wasser, durch Einkriechen von der andern Seite des Stammes darzureichen und sie dann herauszusägen.
Der gewaltigste Baum des Hasbruch ist die sogenannte „dicke Eiche“. Ihr Umfang beträgt zehn Meter; von den Aesten könnte jeder wieder als ein respektabler Baum gelten, und als einmal einer derselben herunterbrach, hatten vier Pferde Mühe ihn vom Platze zu bringen. Der Baum ist durch eine Hecke eingehegt, und nebenan sind Sitzbänke angebracht; denn der Hasbruch ist das beliebte Ziel der Bremer Sonntagsausflüge. Doch giebt es noch eine stattliche Reihe von Bäumen, welche diesem an Umfang nahe kommen; die sieben-, sechs- und fünfmetrigen, welche in anderer Umgebung als gewaltige Exemplare angestaunt werden würden, bilden nur so den Troß, den Mittelschlag.
Die schönste jedoch von allen Hasbruch-Eichen, die imposanteste, malerischste und zugleich diejenige, welche die hervorragendsten Eigentümlichkeiten in sich vereinigt und so gewissermaßen als Typus gelten kann, ist die Amalien-Eiche – so benannt nach der Prinzessin des großherzoglichen Hauses, der nachmaligen Königin von Griechenland. In seinem Umfange steht dieser Baum der dicken Eiche nicht nach, besser aber als jede Maßangabe wird ein Blick auf unsere Illustration und ein Vergleich des Stammes mit den nebenan stehenden Kühen – ausgewachsenen, großen Exemplaren – die ungeheuere Dimension veranschaulichen. Welch ein Baum! Die Wurzeln wie für ein Jahrtausend gegründet, der Stamm kraftstrotzend und doch von edeln Linien. Als jene Eichel, aus welcher dieses Wunderwerk der Natur emporwuchs, von dem Aste an dem sie saß, in den feuchten Moosboden hinabfiel – da war es vielleicht um jene Zeit, als Gunther, der König des Nibelungenliedes, seinen Namen unter die lex Burgundionum setzte; als jener Riß, den wir noch heute als Scharte auf dem mächtig darüber gewachsenen Wulste erblicken, sei es durch den Frost einer Maiennacht, sei es durch das Horn eines Wisent, entstand – da war es vielleicht um die Zeit, da Kaiser Rothbart in den Kyffhäuser hinabstieg, und als der erste zarte Keim zu jenem Aste ansetzte, der jetzt kahl und todt aus dem Laube hervorragt – da erschallten vielleicht die Hammerschläge an der Kirchthür zu Wittenberg – und – wenn diese Eiche einst auch ein zerfallender Stumpf ist, über den die Büsche ihre Ranken schlingen, dann wird wieder ein halbes Jahrtausend verrauscht sein – und Menschen werden leben, die unser gedenken als eines längst verschollenen Geschlechtes.
Den Leser möchte gegenüber dem Gesagten ein Zweifel beschleichen, ob wir uns mit dem riesigen Umfange der Zeiträume, mit denen wir rechnen, nicht einiger Uebertreibung schuldig gemacht hätten. Eine genaue Messung möge beweisen, daß wir
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_426.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)