Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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Einige magyarische[1] Terroristen haben bekanntlich vor Kurzem im Bunde mit deutschen Ueberläufern in der Pester Stadtverordnetenversammlung den Beschluß durchgesetzt, daß gegen alle Billigkeit, ja gegen verbrieftes Recht und geschriebenes Gesetz das deutsche Theater in Budapest gesperrt, das heißt für immer unterdrückt werde. Dieser Beschluß entfesselte in deutschen Kreisen allenthalben einen solchen Sturm von Unwillen, daß sich die Pester Stadtverwaltung genöthigt sah, von der augenblicklichen Durchführung desselben abzustehen und dem bedrohten Kunstinstitut eine Gnadenfrist zu gewähren. Dieser bezeichnende Zwischenfall hat die Augen der Welt wieder einmal auf die Zustände gelenkt, die sich in Ungarn und besonders in seiner Hauptstadt seit dem Anfange der neuesten magyarischen Aera herausgebildet haben. Man glaube ja nicht, daß der geplante schwere Gewaltact, den die magyarischen Chauvinisten angesichts der allgemeinen Entrüstung zu üben nicht den Muth gehabt, etwa eine vereinzelte Erscheinung sei; nein, er ist nur ein Glied in einer langen Kette von Bedrängnissen, welche die Deutschen in Ungarn seit dem Jahre 1861 zu tragen haben. Es ist Pflicht der deutschen Presse, einmal wieder auf diese ungewöhnlichen Vorgänge zurückzukommen, und sie kann um so unbefangener ihre warnende Stimme erheben, als in Deutschland nicht eine Spur von feindseliger Stimmung wider das Magyarenthum zu finden ist, die liberale Mehrheit der Nation vielmehr den Geschicken des schönen Landes stets eine aufrichtige und immer lebendige Theilnahme bewahrt.
Sagen es doch die Magyaren offen und ohne Scheu: das Ziel, nach dem sie streben, sei die Ausrottung des Deutschthums im Gebiete der Stephans-Krone, sei die, wenn nothwendig, auch mit offener Gewalt durchzusetzende Magyarisirung der ungarländischen Deutschen. Fragt man sie nach ihrem Rechte zu solchem Vorgehen, so antworten sie, die Deutschen seien „Fremde“ im Lande und der Hausherr habe ein Recht zu fordern, daß seine Gäste sich entweder seiner Hausordnung fügen oder – gehen. Sind die ungarländischen Deutschen wirklich „Fremde“ in Ungarn, denen man so ohne Weiteres vorhalten kann: „Entweder Ihr werdet Magyaren oder Ihr verlasset das Land!“? Die Geschichte mag auf diese Frage die Antwort geben.
Die westlichen Gegenden Ungarns waren von Franken und Bajuvaren besiedelt, als die Magyaren – im Jahre 884 – unter ihrem Führer Almos und dessen Sohne Arpad in Pannonien erobernd einbrachen. Diese deutschen Stämme, die noch heute die Grenzcomitate gegen Oesterreich hin – Preßburg, Eisenburg, Wieselburg, Oedenburg – bewohnen, wurden durch die asiatischen Eroberer niemals von ihren Sitzen verdrängt und sind somit eine mindestens ebenso alte, wahrscheinlich aber ältere Nationalität in Ungarn, wie die Magyaren. Als Herzog Gehza das Bedürfniß empfand, zum europäischen Westen in dauernde friedliche Beziehungen zu treten und aus seinen Magyaren ein anerkanntes Mitglied der europäischen Völkerfamilie zu machen, verheirathete er seinen Sohn, den nachmaligen König Stephan den Heiligen, mit Gisella, der Tochter des damaligen Baiernherzogs, und in ihrem Gefolge kamen zahlreiche deutsche Ritter (die Chronik nennt einige Grafen von Henneberg und Wasserburg aus Baiern, die Ritter Hunt und Poznam aus Schwaben, Tibolt von Tannberg etc.) in’s Land, welche die ersten Burgen bauten, deutsches Recht und deutsche Rittersitte einführten und Stammväter vornehmer Geschlechter wurden, die noch heute blühen und deren Namen die Liste der Mitglieder des ungarischen Oberhauses zur guten Hälfte ausfüllen. Stephan der Heilige befolgte das Beispiel seines Vaters und lud ebenfalls viele deutsche Edle und Bürger ein, sich in Ungarn niederzulassen, und in gleicher Weise sein Nachfolger Peter. König Andreas der Zweite rief 1143 niederrheinische Colonisten in sein Reich, die das damals wüst liegende Siebenbürgen und Oberungarn bevölkerten und von denen die heutigen Zipser und Sachsen abstammen. Diese Deutschen kamen nicht etwa als landflüchtige Abenteurer, auch nicht als rechtlose Bettler, sondern dictirten dem Könige, der sie in seinem Gebiete aufnehmen wollte, ihre Bedingungen, schlossen mit ihm rechtsgültigen Vertrag, forderten weitgehende Privilegien und nahmen von den ihnen angebotenen Landstrecken erst Besitz, als ihnen alle Forderungen feierlich zugestanden worden waren.
So oft in der Folge Kriege und Feindeseinfälle Ungarn verheerten und entvölkerten, nahm seine Regierung zu demselben erprobten Mittel ihre Zuflucht, um die menschenleeren Einöden mit blühenden Wohnstätten und civilisirter Bevölkerung zu beleben: sie rief deutsche Colonisten in’s Land und gewährte ihnen auszeichnende Vorrechte zum Dank und Lohn für ihre Culturthätigkeit. So that es Bela der Vierte nach den Mongolenzügen im Jahre 1268; so thaten es nach der endgültigen Vertreibung der Türken aus Ungarn Leopold der Erste, Karl der Sechste, Maria Theresia (die Deutschen des Banats und der Batschka sowie der ehemaligen Militärgrenze kamen damals nach Ungarn); so thaten es noch zuletzt die Regierungen Ferdinand’s und Franz Joseph’s, als es galt, das fiebererzeugenden durchaus werthlose Sumpfland die Temes und Bega entlang zu entwässern und in fruchtbarsten Weizenboden umzuzaubern. Die erste Bedingung, welche die deutschen Einwanderer immer stellten, war die, daß man ihnen ihre Sprache, ihr Volksthum unangetastet lasse. Wir haben historische Zeugnisse dafür, daß sie über dieses ihr heiligstes Kleinod mit einer Eifersucht wachten, gegen welche die Lauheit eines großen Theils ihrer Nachkommen kläglich absticht. Das berühmte Ofener Stadtrecht aus dem dreizehnten Jahrhundert (herausgegeben von Michnay und Lichner, Preßburg 1845) bestimmt, daß zum Stadtrichter nur ein Deutscher gewählt werden dürfe, der rein deutsche Ahnen Nachweisen könne. Der Rath bestand aus zwölf Mitgliedern, von denen zehn Deutsche sein mußten; der Rathsschreiber mußte ein Deutscher sein etc. Und dieses Ofener Stadtrecht, das durch Bela den Vierten im Jahre 1244 mittelst einer „goldenen Bulle“ neu bestärkt und bekräftigt wurde, galt auch in allen übrigen Städten Ungarns, die fast ausnahmslos von Deutschen gegründet, von Deutschen bewohnt waren.
Das sind die Rechtstitel der ungarländischen Deutschen, deren es dort nach einer magyarischen Quelle (Karl Keleti, „Hazánk és népe“, Pest 1873) 1,816,087 giebt, wobei man die 500,000 Juden, deren Muttersprache fast ausnahmslos deutsch ist, nicht mitrechnet und die Städter, die in der letzten Generation magyarisirt wurden, mit als Nationalmagyaren verzeichnet. Die Deutschen sind also zum Theil so alte oder ältere Landsassen in Ungarn als die Magyaren selbst, und sofern sie später als diese einwanderten, thaten sie es auf Grund rechtsgültiger Verträge; sie „Fremde“ zu nennen, heißt der Geschichte und dem öffentlichen Rechte in’s Antlitz schlagen; die Deutschen Ungarns sind in ihrem Vaterlande so wenig Fremde, wie die Deutsch-Oesterreicher in Oesterreich, die deutschen Schweizer in der Eidgenossenschaft oder die baltischen Deutschen in den Ostseeprovinzen.
Und sehen wir doch einmal, was diese „Fremden“ im Laufe der Geschichte ihrem ungarischen Vaterlande, ja dem magyarischen Stamme selbst geleistet haben! Deutsche Glaubensapostel, zuerst der Mönch Wolfgang von Einsiedeln in Schwaben, dann der Bischof Pilgrim von Lorch (979), zuletzt der Bischof Adalbert von Prag, predigten den heidnischen Magyaren das Christenthum und schlangen so das Band, welches die asiatischen Eroberer mit den Nationen Europas zu friedlicher Gemeinschaft verknüpfte; die deutschen Colonisten der Zips und Siebenbürgens lehrten die Magyaren den Bergbau und die Metallindustrien; sie bauten zuerst Burgen und Städte und gaben das Beispiel bürgerlicher Seßhaftigkeit, welche die Nomaden bis dahin kaum gekannt; aller Handel, alle Industrie ruhte im Mittelalter – wie ja zum großen Theil auch heute noch – in den Händen der Deutschen, die jedoch über diesen friedlichen Hantirungen ihre Wehrhaftigkeit nicht einbüßten und in den südlichen und östlichen Grenzprovinzen durch Jahrhunderte eine eherne Schutzmauer ihres ungarischen Vaterlandes waren. Christenthum, Städteleben, Bergbau, Handel, Industrie jenseits der Leitha, die ein seßhaftes Culturvolk von barbarischen Nomadenhorden unterscheiden, sind in Ungarn ziemlich ausschließlich deutschen Ursprungs, wir möchten sagen: deutsche Importartikel.
- ↑ Bei dieser Gelegenheit wollen wir wiederholt das Unserige dazu beitragen, daß man „Magyar“ und „magyarisch“ richtig auszusprechen sich gewöhnt: man spreche „Madjar“ und „madjarisch“! D. Red.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_403.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2019)