Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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das darf uns nicht zu sehr philanthropisch anregen. Einmal müssen die Kleinen für ihren Beruf abgehärtet werden, und dann hat man den Trost, daß es ihnen nie an Nahrung fehlen wird. Ein Chiozzotvater kann eben nur schwer das Linnen für ein Hemdchen beschaffen, aber er könnte doch zwanzig Kinder mit Leichtigkeit ernähren; das Meer ist ja ein unverwüstlicher Ackergrund, und den Mais zur nahrkräftigen Polenta liefert das gottgesegnete Land in hundertfältiger Frucht.
Auf den Schiffen gestaltet sich das Bild weit freundlicher; sie sind nicht alles Schmuckes bar, wie die Wohnungen; einige Fahrzeuge tragen sogar recht gefälliges Schnitzwerk, andere sind wenigstens bemalt. Der häufigste Zierrath ist ein goldener und im Falle des Unvermögens ein gelber Engel, der mit vollen Backen die Posaune bläst. In der Mitte sind die Schiffe offen; der vordere Theil birgt das Magazin für Netze, Geräthschaften und Trinkwasser, in der Cabine am Steuer ist der kleine Feuerherd aufgemauert, an dem auf offener See die Fische für den eigenen Bedarf bereitet werden. Sonderbarer Weise schläft der Chiozzot nicht in einem der gedeckten Räume; er breitet im Mitteltheil seine Binsenmatte aus, deckt sich mit dem Himmel zu und läßt sich von den spielenden Meereswellen einsingen. Nur im Sturm erhält auch dieser Theil des Schiffleins seine Bedachung.
Je zehn bis zwanzig Boote vereinigen sich zu gemeinsamer Arbeit und steuern hinaus auf die heimtückische Adria. Ist das Wetter ihrem Handwerk günstig, so sind die Leute oft mehrere Tage und Nächte ununterbrochen beim Fang, sie sind aber dann auch wieder im Stande, auf schwankender Lagerstätte in eine Art Winterschlaf zu verfallen und den veritabelsten Orkan zu verträumen.
Alle Finessen der Fischerei sind natürlich dem Chiozzoten bekannt: er angelt; er katschert; er fischt und krebst in Körben; er harpunirt – kurz, er hat für jedes nutzbare Seegethier eine eigene Methode, eigene Werkzeuge, und die Tradition hat ihm Zeiten und Umstände überliefert, die am erfolgreichsten für die mannigfachen Fangarten liegen. Zuweilen machen die Leute Riesenfänge, zu denen sich eine größere Anzahl Barken vereinigen; sie werfen Schleppnetze aus, bilden einen weiten Halbkreis und treiben alles Gethier, was sich zufällig in dem gefährlichen Rayon tummelte, gegen eine Sandbank. Sind die Fischkästen gefüllt, dann sieht der Chiozzot nach dem Wimpel, hißt das Segel auf und steuert gerades Wegs auf die Stadt los, die am günstigsten vor dem Winde liegt. So kommt es, daß bald Venedig, bald Triest, bald Zara oder Brindisi mit Fischern aus Chioggia förmlich belagert wird.
Was Menschenwitz in der Wetterprophezeiung überhaupt vermag, das sollen unsere Fischer leisten. Der Flug der Vögel, die Farbe des Wassers, die Windrichtung, die Zähigkeit oder die Trockenheit des Segeltuchs – das sind ihre Wettergläser. Ich weiß nicht, was an dem Ruf Wahres ist; merkwürdig erschien mir die Uebereinstimmung. Ohne jegliche Verabredung erscheinen Hunderte zu gleicher Zeit im Hafen oder verschwinden aus demselben wie auf einen Geisterwink.
Zu jedem gefahrvollen Handwerk gesellt sich ein gewisser Gleichmuth gegen das Leben, bei dem Chiozzoten aber wächst dieser zur Lebensverachtung an. Ich habe zwar nichts Näheres über den Procentsatz erfahren können, der draußen auf hoher See zu Grunde geht, er soll aber ein ganz erschrecklicher sein. Thatsache ist, daß in keiner italienischen Stadt nach dem Einwohnerverhältniß so viele Wittwen ihr Leben fristen, wie zu Chioggia.
Es sei hier zum Schluß ein Wechselgesang der Fischer citirt, der den meisten Lesern als Ausfluß eines verwilderten Gemüthes erscheinen wird, in Wirklichkeit jedoch nichts weiter ist, als ein etwas drastischer Ausdruck für die allgemeine Lebensverachtung, die sich naturnothwendig jedes Menschen bemächtigt, der unausgesetzt dem Tod in’s Auge schauen muß. Dem Sinne nach und abgekürzt lautet der Gesang:
Der Sohn ruft:
„Vater, Vater, ich ertrinke.“
Der Vater singt, indem er Feuer anschlägt:
„Pinke, pinke, pinke, pinke!“
Der Sohn:
„Mich verschlingt das Element!“
Der Vater:
„Wart’ nur, bis die Pfeife brennt!“
Wir sehen, bei diesem Völkchen haben selbst die Elementargewalten ihre Autorität eingebüßt; die Regierung und die Geistlichkeit kann sich also mit ihnen trösten.
Ein Feierabendhaus. Feierabend! Welch süßer Klang schon in dem Wort! Ein Klingen wie Abendglocken – Heerdengeläut – Vogelgesang – Kinderjubel muthet uns daraus an, so anheimelnd für's Ohr und Herz, und weckt uns Erinnerung und Sehnsucht nach den glücklichen Tagen der Kindheit, wenn wir alt und müde geworden – und nach der fernen deutschen Heimath, wenn wir draußen in der Fremde sind.
Feierabend – des Lebens! Ein friedlich Ausruhen nach des Lebens Last und Sorge im behaglichen Heim, im Kreise liebevoll sorgender Kinder und zärtlicher Enkel. Auf einem solchen Feierabend ruht des Himmels Segen, wie ein rosiger Sonnenuntergang. Wohl dem, der dies an sich selber erfährt!
Aber wehe dem, der diesen Segen und diesen Frieden nicht kennt! Wehe dem heimathlosen, müden Wanderer, der an seinem Lebensabend nicht weiß, wohin sein Haupt legen! Wehe dem Arbeiter, der alt und krank und kraftlos nichts mehr erwerben kann – und keinen Sparpfennig, keine liebevoll sorgenden Kinder, kein friedlich Heim hat! Hinaus mit ihm auf die öde Landstraße, den Bettelstab in der Hand – in’s Armenhaus – in’s Hospital – auf den Armenkirchhof!
Und solcher todtmüden, hungernden, heimlosen Arbeiter giebt es auf dieser unvollkommenen Welt Millionen: Arbeiter der Hände und Arbeiter des Geistes, die kein friedlicher Feierabend erwartet, wenn die Sonne untergeht. O, wer diesen Armen und Elenden helfen, wer ihnen einen sorgenlosen Lebensabend bereiten könnte – ein friedlich Sterben und ein freundlich grünes Grab!
Das können wir nicht – bei Allen! Aber gewiß bei Einzelnen. Und da wir’s können, ist es auch unsere Pflicht, es zu thun: Jeder nach seinen Kräften und seinem Können – Jeder an seinem Platze und in seinem Kreise.
Und so komme ich heute zu den Hunderttausenden und aber Hunderttausenden, deren Auge auf dieses Wort fällt und die da helfen können, wenn sie wollen, mit der herzlichen Bitte: laßt uns einen kleinen Anfang machen mit einem solchen Feierabendhause für eine Classe vereinsamter alter müder Arbeiterinnen, die kein Heim und kein Brod haben!
Es sind Arbeiterinnen des Geistes und des Herzens, für die ich bitte; Arbeiterinnen, wie sie vielleicht auch für Dich, lieber, glücklicher Leser, wahrscheinlich aber für Dich, liebe, glückliche Leserin, ihre besten Kräfte, ihre treueste Sorge, ihre reinste Liebe gegeben haben.
Ein oft gebrauchtes Wort sagt: die strahlenden deutschen Siege unseres Jahrhunderts hat der deutsche Schulmeister erfochten, der unsere wackeren Soldaten erzog und lehrte. Die Siege, welche unsere deutsche Lehrerin errungen sind weniger geräuschvoll und weniger prunkend, aber sicher ebenso wichtig und bedeutsam für das Vaterland. Sie erzieht, lehrt und bildet unsere Töchter zu deutschen Hausfrauen und Müttern heran, zum Schmuck und zur Krone des Hauses, zum Segen der Familie – zum Wohle des Staates.
Und was ist ihr Lohn – ihr Feierabend?
Abgenutzt – wird die deutsche Lehrerin und Erzieherin fortgeworfen, wie altes, rostiges Eisen. Hunger und Kummer, Sorge und Noth sind ihr Dank. Sie hat nicht einmal ein ruhiges Plätzchen zum Sterben.
Die altmodische deutsche Gouvernante ist bei uns längst zum Typus der lächerlichen alten Jungfer geworden, mit der Jeder ungescheut seinen Scherz und Spott treiben zu dürfen meint. Die gedankenlose – und in dieser Gedankenlosigkeit nur zu oft bitter grausame Welt vergißt gar leicht und schnell, was diese lächerliche alte Schulmamsell, diese überflüssige alte Jungfer einst, als sie jung und frisch und in der Mode war, treu und opfermuthig gearbeitet hat, Segen um sich her verbreitend, säend und pflanzend zu Blüthe und Frucht.
Der sorgenvolle Gedanke an’s Alter hat schon mancher deutschen Lehrerin und Erzieherin Kummerthränen erpreßt und ihr den schweren, sauren Beruf noch schwerer und saurer gemacht. Ihr winkt kein friedlicher Feierabend. Was sie in langen arbeitsvollen Jahren vom Verdienst selbst bei größter Sparsamkeit zurücklegen konnte, ist gewöhnlich zu wenig zum Leben – und nur genug zum Sterben. Und der Staat, der für seine jungen und alten Invaliden des Schwertes und Zündnadelgewehres sorgt – für diese Invalidinnen des Friedens, die ihr Leben und ihre Kraft nicht weniger dem Vaterlande widmeten, als der Krieger, für die armen, alten, müden Schulfräulein hat der Staat bis jetzt keinen Pfennig und kein Strohdach übrig gehabt. Nur städtische, festangestellte Lehrerinnen können auf winzig kleine Feierabendpensionen hoffen.
Dürfte ich doch den Herrn Reichskanzler und die Herren Minister hiermit recht herzlich und eindringlich bitten: für diese Invalidinnen friedlicher Arbeit doch alljährlich ebenso beredt und, wenn’s sein muß, ebenso drohend vom Staate nur ebenso viele Tausende zu fordern, wie für die Invaliden des Krieges Hunderttausende. Und sollte das nun
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_379.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)