Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
ein Lazareth aufgeschlagen hatten, aus dem ein Wagen nach dem andern die Todten fortschaffte.
Als die Plünderer abgezogen waren, strömte die Bevölkerung aus den Thoren, die Einen auf das Schlachtfeld, Andere dahin, wo man die Todten begrub, wieder Andere nur irgendwohin in’s Freie, um in der geistbefreienden Natur wieder voll aufzuathmen.
Zwei Tage nach der Schlacht war es – da wanderten auch meine Großeltern nebst dem Brautpaare und dem Dreizehnjährigen, der im glücklichen Besitze seines Albums verblieben, um das am Abhange des Landgrafenberges gelegene Berggrundstück der Familie mit seinen hübschen Gartenanlagen aufzusuchen. Während die Uebrigen sich hier unter Gesprächen über die jüngste Vergangenheit und die dunkle Zukunft ergingen, entdeckte der nach Kinderart herumschweifende Knabe, daß hinter dem Grundstück ein Massengrab für französische Soldaten soeben mit Leichen gefüllt wurde. Er kam athemlos mit der Nachricht angestürzt, und bald hielt die kleine Gesellschaft mit Schaudern vor der gähnenden Gruft.
Wagen voller Todten wurden herbeigefahren; in der Gruft selbst standen Arbeiter, welche schwatzend, zuweilen mit rohem Scherze sich über das Grausige der Situation hinweghelfend, einen der starren Körper nach dem anderen in Empfang nahmen und in die Reihe legten. Die Frauen drängten schüchtern zum Weggehen; da fiel ein Wort, welches sie wie ein Bannspruch an die Stelle fesselte.
„Halt!“ sagte eine Stimme in der Grube, „wart’ einen Augenblick! Der Tambour da hat einen Ring am kleinen Finger, und ich will ihn abziehen für meine Alte, damit sie doch auch etwas von den Franzosen aufheben kann.“
Wie ein Blitz flog die frische Erinnerung an den Raub des Verlobungsringes in dem Brautpaare auf – ein paar Schritt nach der Grube zu, und da starrte ihnen das wohlbekannte widerliche, jetzt bleiche und vom Todeskampf verzerrte Antlitz des rothhaarigen Franzosen entgegen. Am kleinen Finger seiner Linken, welche der Arbeiter eben emporhob, blinkte ein schmaler Goldreif.
Der Bräutigam ließ den Arm der Braut los und beugte sich hinab: wenige Worte der Verständigung genügten; der Arbeiter reichte den Ring herauf. Es war der geraubte.
Erschüttert sah sich das Paar eine Secunde lang in die Augen. Dann nahm der glückliche Bräutigam das wiedergefundene Symbol der Treue zwischen die Fingerspitzen und streifte es mit schweigendem Ernst der Geliebten an den Finger. Und wie sie bleich und bebend dastand, nahm er sie in den Arm und küßte sie auf die erblaßten Lippen. „Unverlierbar!“ sagte er.
Der Ring ist noch heute als theures Vermächtniß in der Familie erhalten, eine sprechende Erinnerung an die Tage der Unglücksschlacht und an eine Schreckensstunde, zu welcher die Familienchronik den vorstehend wiedergegebenen Commentar liefert.
„Was in aller Welt gedenken Sie in ‚Dschosa‘, dem Fischerneste, zu treiben? Dort finden Sie erstens arme Leute, zweitens Bettelleute und drittens Leute, die gar nichts haben. Wünschen Sie ‚Dschozzoten‘ zu sehen, so besuchen Sie lieber die Gallerien! Dort finden Sie solche von Meisterhand gemalt.
Mit diesen Worten beantwortete der Sandwirth von Venedig, der Herbergsvater und Berather aller fahrenden deutschen Künstler und Schriftgelehrten, meine Frage nach dem nächsten Lagunendampfer, der mich nach Chioggia führen sollte. Wider Absicht wuchs meine Entgegnung zu einem kleinen Vortrag an über eine Art von classischer Armuth, die, gleich fern von aller Culturwohlthat wie allem Culturelend, die beste Bewahrerin alter, naiver Volkssitten ist und die das öffentliche Interesse ebenso gut verdient, wie die tausend Ellen bemalter Leinwand und die steinerne Märchenpracht von Sanct Marcus.
Es war gar nicht nöthig, mit dem Goethe’schen Wort vom Hineingreifen in’s volle Menschenleben abzuschließen; auch dem Sandwirth erschien in diesem Licht ein lebendiger Chiozzot immerhin noch interessanter als ein gemalter; er warf seinen Mantel über, empfahl sein Hôtel auf einige Tage der Frau Sandwirthin, dampfte mit mir gen Chioggia und ist mit seiner Kenntniß des seltsamen Chiozzotendialektes nicht von meiner Seite gewichen, bis ich ihm sagen konnte: „Meine Studien sind beendet, ich danke Ihnen von Herzen.“
Die sechzehn Seemeilen Fahrt auf der Lagune gehören zweifellos zu den anziehendsten Reisestrecken, welche die graue Vergangenheit unserem Touristenzeitalter bereitet hat. Zur Rechten dehnt sich unabsehbar das prächtige blaugrüne Gewässer mit seinen Hunderten von kleinen flachen Inseln aus, das man oft als Sumpf verleumdet hat. Zur Linken begleitet uns bis Chioggia ein schmaler Inselstreifen, der durch das ewige Zusammenstauen der Salz- und Süßwassermassen entstanden ist, und dahinter wogt die majestätische Adria und umspült die Grundmauern jener Tausende von malerischen Heimstätten, welche der kecke Erdensohn auf dem schmalen Streifen errichtet hat.
Diese Häuserkette zieht sich von Malamocco bis über Palestrina hinaus und ist nur dort unterbrochen, wo das Meer seine Einfallspforten offen hält und seine Wogen in die friedfertigere Lagune hereinrollt; dabei wird der Landstreifen an manchen Stellen so schmal, daß man von hier einen Stein über die Häuser hinweg in’s Meer werfen könnte. Hunderte von Fischerbooten mit dem classisch-lateinischen Segel, prächtige Fregatten der jungen italienischen Marine, schwarze, unansehnliche englische Poststeamer, die lautlos, wie Geisterschiffe, mit erstaunlicher Schnelligkeit den Silberspiegel der Lagune aufpflügen, beleben die krystallenen Straßen.
Hinter Porto di Malamocco beginnen die Murazzi, die Riesenmauern, deren Gesammtlänge 5227 Meter, also nahezu zwei Wegstunden beträgt. Die Venetianer errichteten sie im vorigen Jahrhundert, und sie bilden gleichsam das Schlußwerk jener großartigen veretianischen Bauten, vor denen man noch heute mit offener Bewunderung stehen bleibt. Diese Murazzi mußten errichtet werden, weil im Süden der Lagunen die Nehrung nicht allein das Meer zurückhalten konnte, wenn ein Sirocco große Wassermassen in die buchtartige Adria hinauftrieb; die Städte Chioggia, Sottomarina und Palestrina würden wahrscheinlich jetzt von den Fluthen weggespült und Venedig mindestens schwer bedroht sein, wenn die Murazzi nicht stünden. Die Höhe beträgt 10 bis 15 Meter, wovon der größere Theil unter Wasser steht; das Profil stellt ein verschobenes Dreieck dar, dessen obere stumpfe Ecke einen bequemen, schönen Fußweg trägt. Das Gestein zu der halben Million Kubikmeter Mauerwerk lieferten die istrischen Marmorbrüche.
Die lange Gallerie von Seestücken findet mit Sottomarina und Chioggia einen überaus anziehenden Abschluß; sie liegen so flach auf dem Wasserspiegel auf, daß man vermeint, die Wellen, die der kleine Lagunendampfer aufwirft, müssen sie schon unter Wasser setzen; nun kommt hinzu, daß sich das perspectivische Verhältniß beider Orte während der Einfahrt stark verschiebt; dadurch gerathen sie scheinbar in Bewegung, sodaß man in Zweifel sein könnte, wer vorwärts schwimmt, sie oder der Dampfer.
Der Grundplan Chioggias ist leider langweilig und nüchtern, wie der einer jungen amerikanischen City. Die Hauptstraße Vittorio Emanuele und, durch eine Häuserreihe getrennt, der Canal della Vena theilen die Stadt in zwei Hälften; umgürtet ist sie in Hufeisenform vom Canal Lombardo, dessen inneres Ufer Häuserreihen und dessen äußeres kleine Inseln und seichte Lagunen bilden. Quer durch den Ort aber schneidet eine große Anzahl kleiner, enger, durchweg gerader Gassen, die sämmtlich am Canal Lombardo endigen. Jedes einzelne dieser Gäßchen würde ein köstliches Modell für verwahrloste Architektur darstellen – glaubt man doch im ersten Anblick Brandruinen von sich zu haben. Unförmliche Schornsteine erheben sich im Freien; die Mauern sind roh und brüchig; der Kalkbewurf fehlt bis zum ersten Stockwerk gänzlich; die vergitterten engen Fenster sind oft in barocker Laune über die weiße Mauerfläche vertheilt, und daneben neigen sich altersmüde Fensterladen traurig herab nach dem Beschauer, und vielfach sind sie noch garnirt mit sehr fraglichen Wäschestücken. Hier wohnen die armen Fischer, welche 90 Procent der 28,000 Köpfe zählenden Stadtbevölkerung ausmachen, und im anstoßenden Canal Lombardo liegen an hohen Festen, zu denen sie stets heimkehren,
- ↑ Sprich Kiodscha – im Volksmund: Dschosa.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_375.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)