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Seite:Die Gartenlaube (1880) 362.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


auch des bitteren Gefühles nicht zu erwehren, wie wenig die deutsche Leserwelt diesem vaterländischen Schriftsteller bislang gerecht geworden. Schade, daß er kein Franzos gewesen! Schade, daß er, statt aus der Geschichte, aus der Landes- und Volksart seiner Heimat heraus seine Romane und Novellen zu schreiben, nicht aus boue de Paris wüste Fratzen geknetet hat! Schade, daß er, statt ein standhafter Idealist und echter Poet zu sein, nicht den photographischen Apparat des hochgelobten „Realismus“ in Boulevardstheatern, Branntweinkneipen und sonstigen Kloaken herumgeschleppt hat! Wäre er ein Franzos gewesen und hätte er so geschmierakelt, ja dann würden die guten Deutschen und besseren Deutschinnen zweifelsohne seine Bücher verschlungen haben und verschlingen.

Von den Verhältnissen und Stimmungen des Freundes in seinen letzten Lebensjahren hab’ ich keine nähere Kenntniß. Ich weiß nur, daß er seinen Lebensabend verhältnißmäßig sorglos verbringen konnte. Der Ungerechtigkeit und Theilnahmelosigkeit des Publicums müde, hatte er der dichterischen Hervorbringung entsagt und sich ganz seinem spät, zu spät erlangten Amte als einer der Universitätsbibliothekare zu Tübingen, sowie seinen literarischen und historischen Forschungen gewidmet. Eine gediegene Frucht der letzteren war die im Jahre 1871 in Buchform erschienene geschichtliche Bilderreihe „Aus den Tagen der Schmach“. Wie Kurz im großen Jahre der Deutschen fühlte und dachte, bezeugt schön die Zusatzstrophe, welche er dazumal (1870) seinem zehn Jahre zuvor gedichteten Märchen „Die zwölf Brüder und der Menschenfresser“ anfügte. Dieses politische Märchen hatte die Schlußzeile gehabt: „’s gibt keinen Oger mehr.“ Die Zusatzstrophe von 1870 nahm das auf und sagte:

„Doch ja, den Oger gibt’s zur Frist
In seiner stolzen Babel,
Doch der begrab’ne Bruderzwist
Macht ihn erst recht zur Fabel.
Ein Zorn im Volk, ein Muth im Heer,
Vorüber Hohn und Spott,
Und lächelnd reicht er uns den Speer,
Der alte Siegesgott.“

Die Periode der Enttäuschung, Ernüchterung und Erbitterung, welche dem beispiellosen Aufschwung des großen Jahres folgte, hat Kurz nicht mehr mitdurchleben müssen. Der Anblick der traurigen Ebbe, welche so bald nach der prächtigen Hochflut von 1870–71 eintrat, blieb dem Patrioten erspart. Auch ist ihm das Sterben leichter geworden, als ihm das Leben gewesen. Am 10. October von 1873 beschloß ein plötzlicher Tod das innerlich so reiche, äußerlich so dürftige Leben des am 30. November von 1813 geborenen Dichters. „Das Herz war ihm gesprungen,“ meldet sein Biograph und fürsorglich treuer Freund Heyse.

„Have, anima candida!




Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
(Schluß.)

Nach einer Pause fragte Sergey:

„Sind Sie sicher, daß der Mann, der um Ihre Liebe wirbt, nicht einen Nebenzweck damit verbindet, daß er nicht im weltlichen Sinne des Wortes sein Glück machen will?“

„Er hat Rang und Stellung,“ antwortete Léonide, „Alles, was den Ehrgeiz eines Mannes befriedigt. Aber das ist es. Ich denke nicht an mich. Entreiße ich ihm nicht diese köstlichsten Güter, wenn ich seiner Leidenschaft die meine entgegenbringe? Zwingen ihn dann nicht die Verhältnisse zur Verbannung, zur Weltflucht, zu unerhörten Opfern? Was thun?“

Milinka war es, die zuerst ihre Stimme erhob. Brennende Röthe auf den Wangen, aber die Augen begeistert zum Himmel aufgeschlagen, rief sie:

„Entsagung für immer von beiden Seiten oder gemeinsam sterben.“

Das war correct und zugleich romantisch.

„So wird wohl das Ende sein,“ schluchzte Léonide in ihr Tuch.

Sergey richtete unwillkürlich einen Blick der Mißbilligung auf Milinka. Die Poesie ihres Ausspruchs wollte ihm nicht zu Sinne. Er konnte sich über den Grund nicht sogleich klar werden; er fühlte nur, daß der Ausspruch der wirklichen Situation gegenüber inhaltsleer war.

Matrjona hatte noch nicht gesprochen; sie saß nachsinnend da mit niedergeschlagenen Augen. Als sie jedoch Léonide weinen hörte, sagte sie sanft:

„Sie weinen vielleicht über Ihr höchstes Glück, theuerste Léonide, statt darüber zu jubeln. Sich geliebt zu wissen, wenn man liebt, muß alles Unglück ausgleichen, das die Erde aufbieten kann, wie es kein größeres Unglück auf Erden geben mag – ich fühle es im eigenen Herzen – als sich nicht geliebt zu wissen, wenn man liebt. Die Fragen, die Zweifel betreffen also nur den einzigen Punkt, ob er Sie wirklich liebt. Ich verstehe nicht Ihre Bedenken, Ihre Furcht, ihm seine Stellung zu rauben, ihn um die Genüsse seines Ehrgeizes zu bringen. Sind Sie nicht bereit, Aehnliches für ihn zu thun? Ich würde in Ihrem Falle mit dem Manne, an dem ich zweifle, bald im Reinen sein. Ich würde ihm sagen: 'Wir besteigen einen Wagen oder ein Schiff und fahren in die weite Welt, nach einem vergessenen Erdenwinkel, und Beide haben wir uns dadurch die Rückkehr für immer versperrt und haben uns für immer vereinigt. Zögerst Du auch nur eine Secunde, denkst Du auch nur mit einem Seufzer des Bedauerns an Deinen Rang, Deine Stellung, Deine Freunde, an Dein bisheriges Leben mitten in den Genüssen der Welt, kommst Du nicht augenblicklich mit mir, dann geh – dann hast Du mich nie geliebt, dann wollen wir uns niemals wiedersehen.' So würde ich zu dem Manne sprechen, an dem ich zweifle, und wäre er nicht, bevor ich noch mit den Worten zu Ende bin, mit mir im Wagen, im Schiff, so kehrte ich nach Hause zurück, zwar im Herzen vernichtet, aber stark durch die Pflichterfüllung gegen den Unglücklichen oder Verhaßten, mit dem ich verbunden bin. Was mir auch dadurch an Bitternissen erstünde, sie wären süß im Vergleich mit dem, was ich im Herzen erfahren habe, und je schwerer die Pflichten zu erfüllen wären, um so leichter würden sie mir helfen, mit allen übrigen Forderungen an das Leben für immer abzuschließen.“

Schon während Matrjona sprach, hatte sich Léonide in einem Gefühl ungeahnter Befriedigung erhoben. Jetzt umarmte sie das Mädchen und rief fast mit Jauchzen:

„Ich bin gerettet.“

Sie dachte an den Oheim in den Colonien.

Aber auch auf Sergey war das Auftreten Matrjona’s von unerwarteter Wirkung.

„Wer hätte gedacht, daß so viele praktische Einsicht in das Leben, verbunden mit dem Respect vor den höchsten Interessen des Herzens, in einer unerfahrenen Mädchenseele sich entwickeln können! Aber sie selbst hat verrathen, wer ihr solche Lehren gab. Sie gestand, aus eigenem Herzen zu sprechen, wenn sie es das größte Unglück nannte, sich nicht geliebt zu wissen, wo man liebt. Weh mir, wenn nicht ich es sein sollte, der es vermag; dieses Unglück von ihr zu nehmen! Sie ist nicht Martha, nicht Maria, sie ist Martha und Maria.“

So sagte sich Sergey im Stillen. Der Augenblick war für ihn gekommen, aus der gleichgültigen Passivität mitten in den Sturm der Leidenschaft hineinzuspringen.




5.

Zehn Minuten nach der Entfernung Nikitine’s hörte die Gräfin Tschatscherin, noch immer vor ihrem Ofenschirm sitzend, die Einfahrt des Wagens, der die Mädchen heimbrachte. Sie rührte an einer Glocke, die vor ihr stand, und gab Befehl, die jungen Damen, wenn sie sich nicht zu müde fühlten, noch zu ihr zu bescheiden.

Matrjona allein erschien. Milinka hatte sich sogleich zurückgezogen und ließ sich durch ihre Schwester mit zu großer Ermüdung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_362.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2021)