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Seite:Die Gartenlaube (1880) 324.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

worden war. Der morsche Zustand des Gerüstes war erwiesen, aber der Beklagte behauptete, dasselbe würde nicht eingestürzt sein, wenn nicht der Beschädigte selbst zu viel Holz darauf gelegt hätte. Das Gericht indeß erklärte: „Es könne darauf entscheidendes Gewicht schon darum nicht gelegt werden, weil es die Pflicht des Angestellten gewesen wäre, wenn er das schadhafte Gerüst weiter benutzen ließ, den Arbeitern genaue Anweisung zu ertheilen, bis zu welchem Maße es belastet werden dürfe.“ Gleichermaßen wird es einem Angestellten als „Verschulden“ angerechnet, daß derselbe einen einfachen Fabrikarbeiter mit einer Arbeit betraute, die besondere Geschicklichkeit erforderte, „ohne ihm mindestens genaue Verhaltungsmaßregeln zu geben oder ihm den Beistand eines technischen Sachverständigen zu gewähren“.

Von besonderem Interesse ist auch ein Fall, wo ein Gießer als „Vorarbeiter“ eine gemeinschaftliche Arbeit zugleich commandirte und selbst mit verrichtete, und wo er durch die Art seines Zugreifens die Schädigung seines Mitarbeiters veranlaßte. Die unteren Instanzen hatten hier angenommen, der Gießer sei in diesem Falls nur als gewöhnlicher Arbeiter thätig gewesen; das Reichsgericht erkennt dagegen, daß das thätige Miteingreifen des Gießers seine Verantwortlichkeit als „Vorarbeiter“, als Leiter dieser bestimmten Verrichtung, nicht aufhebe, und verurtheilt deshalb den Unternehmer zur Entschädigung des verletzten Arbeiters.

Günstiger für die Unternehmer ist ein anderes Erkenntniß des Reichsgerichts, welches ausführt: die Benutzung einer Maschine könne zwar wegen ihrer großen Gefährlichkeit für die Arbeiter den Gewerbetreibenden für den dadurch herbeigeführten Schaden verantwortlich machen, allein dazu gehöre eine ganz besondere Gefährlichkeit. Wollte man alle für gefährlich zu erachtende Maschinen beseitigen, so würde eine große Reihe von Fabriken unmöglich werden. Nach § 107 der Gewerbe-Ordnung hätten die Arbeiter lediglich einen Anspruch auf „Sicherung“, soweit sie durch Einrichtungen „thunlich“ sei.

Wie in der Beurtheilung des Entschädigungsanspruchs selbst, so ist das Gericht auch vollkommen frei in Feststellung der Höhe der zu gewährenden Entschädigung. Nach dem Haftpflichtgesetze soll dem Beschädigten der durch die Beschädigung ihm erwachsende Vermögensnachtheil ersetzt werden. Schon das Reichsoberhandelsgericht hat nun angenommen, daß hierfür maßgebend sei die Summe des Erwerbes, welchen der Beschädigte zur Zeit der Beschädigung hatte. Dieses Einkommen muß ihm erhalten bleiben; bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit in Folge der Beschädigung muß ihm dasselbe vollständig ersetzt, bei nur partieller muß der Ausfall vergütet werden, den er in Folge dessen an jenem früherer Einkommen erleidet. Bei einem ungleichmäßigen Erwerbe wird der Durchschnitt der letzten Jahre als Norm genommen. War bei einer Fortsetzung derselben Arbeit (ohne Versetzung in eine andere Stelle) eine Erhöhung des Einkommens mit Bestimmtheit zu erwarten (z. B. bei Zugführern u. dergl.), so ist auch darauf Rücksicht zu nehmen. Wird dem noch theilweise Erwerbsfähigen von dem Entschädigungspflichtigen eine Arbeit zugetheilt, die ihm einen entsprechenden Erwerb gewährt, so muß er diese annehmen, wenn sie seiner bisherigen Beschäftigungsart angemessen ist, was bei dem gewöhnlichen Arbeiter leicht zu bewirken sein wird. Wissenschaftlich oder technisch Vorgebildete brauchen nur wieder in eine ebensolche Arbeit einzutreten. Das Reichsgericht hat dem von der Kreissäge beschädigten Knaben, da sein rechter Arm unverletzt geblieben, er also noch mit diesem arbeiten konnte, als Entschädigung eine der Hälfte seines Wochenlohns entsprechende Rente zugebilligt.

Eine eigenthümliche Frage entstand bei dem beschädigten fünfjährigen Knaben. Hier konnte von einem Verluste der Erwerbsfähigkeit augenblicklich noch keine Rede sein, und das Reichsgericht wies daher den Anspruch auf eine bestimmte Entschädigung „zur Zeit“ ab. Andererseits war zu erwägen, daß nach dem Haftpflichtgesetz jeder Anspruch auf Entschädigung, wenn nicht geltend gemacht, nach zwei Jahren erlischt. Um diesen Nachtheil von dem Beschädigten abzuwenden, entschied das Reichsgericht, „daß die Beklagte (die Pferdebahngesellschaft) dem Kläger (dem Vater des Beschädigten) für dessen Sohn Ersatz des Vermögensnachtheils zu leisten schuldig sei, welcher für Letzteren in Folge der Verletzung durch Verminderung der Erwerbsfähigkeit in Zukunft entstehen“. Auf Grund dieser Entscheidung kann der Beschädigte später, wem er in das Alter der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist und hierbei sich die Folgen der erlittenen Verletzung in Bezug auf eine Verminderung dieser Erwerbsthätigkeit herausstellen, auf die wirkliche Leistung einer Entschädigung Anspruch erheben.

Aus all diesen oberstrichterlichen Entscheidungen in Haftpflichtfällen erhellt so viel, daß auch schon das gegenwärtige Gesetz für den Schutz des Publicums und speciell der Arbeiter nicht wirkungslos gewesen ist – dank der erleuchteten, auf möglichste Ausgleichung der im Gesetze noch enthaltenen Ungleichheiten und Schwierigkeiten sorgsam bedacht gewesenen Praxis dieser höchsten Gerichte. Das darf indessen nicht abhalten, das Gesetz zu verbessern, wo es noch mangelhaft ist, und damit den Gerichten selbst eine freisinnige Auslegung desselben im Geiste der Gerechtigkeit und Billigkeit noch mehr zu erleichtern.




Ein deutscher Gesangsmeister.
Von J. C. Lobe.

Seit einem Menschenalter beobachte ich die stille, ernste Berufsthätigkeit eines Künstlers, der in der schwierigsten Disciplin der Musik, im Gesangunterricht, so beachtenswerthe Erfolge erzielt hat, daß er als eine Zierde deutschen Kunstlebens und Kunststrebens einen Platz im Gedächtniß der Nation verdient, nachdem in den engeren Fachkreisen sein Ruf längst über Deutschland, ja über Europa hinaus gedrungen. Oft schon war es meine Absicht, auf das künstlerische Wirken des bedeutenden Mannes aufmerksam zu machen, aber die stete Geneigtheit desselben, sich von der Oeffentlichkeit zurückzuziehen, durchkreuzte immer wieder mein Vorhaben. Die Aufzeichnungen blieben aus diesem Grunde unter meinen Papieren verborgen, bis sie jetzt wieder in die ordnende Hand des Greises fielen und mich allen Ernstes mahnten, eine gebotene Pflicht zu erfüllen und, den Widerstand des Meisters besiegend, das Leben und Wirken des gegenwärtig vielleicht gediegensten Gesangsbildners Deutschlands, wenn auch nur in kurzen Zügen, dem großen Lesekreise der „Gartenlaube“ vorzuführen.

Das Haupt einer ehrenfesten Tuchmacherfamilie in Neustadt an der Orla war Franz Götze’s Großvater. Er müßte kein Thüringer gewesen sein, wenn er an der monotonen Handhabung des Zettels und Einschlags, wie das Färberhandwerk sie erheischt, Genüge gefunden hätte.

Musik liegt dem Thüringer Völkchen im Blute; sie ist sein belebender, erheiternder Motor und kennzeichnet Land und Leute. Jedes Kind der zahlreichen Familie tractirte sein Instrument bei den fröhlichen Liedern und Tänzen der Feierstunde. Der Sohn David, Gründer einer ansehnlichen Kunst- und Schönfärberei im Orte der hundert Tuchmacher, dilettirte zugleich auf drei verschiedenen Instrumenten. Seine sämmtlichen neun Kinder waren wiederum mit Trieb und Lust zur Musik ausgestattet. Der älteste Sohn Eduard, ein entschiedenes Talent für das Clavierspiel, versuchte sich sogar in kleinen Compositionen, während er dem Handwerke des Vaters treu zugethan blieb.

Der dritte Sohn, Franz, der hier im wohlgelungenen Bildnisse erscheint, 1814 zu Neustadt an der Orla geboren, war gleichfalls für die Färberei bestimmt, und als es, wie üblich, zur Wahl eines Instrumentes kam, fiel die Wahl auf die Geige, da noch Niemand ahnte, daß der Knabe das beste Instrument in seiner Stimme mit auf die Welt gebracht hatte.

Der kleine Violinist gab bald Zeugniß von Talent und Fleiß. Als Ende der zwanziger Jahre der Vater mit seinem Geschäfte nach dem benachbarten Städtchen Pößneck übergesiedelt war, fanden sich einige junge gebildete Männer an mehreren Tagen jeder Woche bei der Färberfamilie ein, um sich an den musikalischen Unterhaltungen der beiden erwähnten kaum dem Knabenalter entwachsenen Söhne zu erfreuen. Einer der Musikfreunde, Kaufmann Sänger, der sich selbst als Clavierspieler an den Productionen gern betheiligte, wußte den Vater zu bestimmen, dem Sohne Franz gründlichen Unterricht auf der Geige geben zu lassen. Kein Geringerer als der Altmeister Spohr wurde als Lehrer ausersehen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_324.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)