verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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sie sich am Neujahrstage wiedersehen wollten, nach vorausgegangener brieflicher Verständigung, ob in Andrejewo oder bei Sergey. Sollte jedoch für Einen von ihnen ein wichtiges, selbst nur ein ungewöhnliches Ereigniß eintreten, das er dem Andern mündlich mittheilen müsse oder wolle, so wäre eine Ausnahme zu machen, und in diesem Falle könne Einer den Andern ungehindert besuchen. Selbst den beiden Mädchen, als er ihnen Lebewohl sagte, vertraute Sergey nicht den wahren Grund an, weshalb er für längere Zeit Abschied nahm.
Beide Schwestern waren schmerzlich bewegt, daß sie den Freund ihres Vaters bis zu Neujahr nicht wiedersehen sollten. Der Tag ging eben zur Neige; das Wetter war grau und unheimlich geworden und Schneewolken zogen am Himmel hin. Matrjona verließ plötzlich den Salon und lief zu Wania, dem alten Diener, der Sergey immer begleitete. Sie kehrte zurück und erklärte mit eifrigen Worten, daß Sergey für die plötzliche Verschlimmerung des Wetters nicht genügend ausgestattet sei. Sie bat ihn, Wania zu erlauben, einen Pelz des Vaters, ein Fell und einen Teppich für den Wagen mitzunehmen, was jener mit Dank zuließ.
Während ihrer Entfernung hatte Sergey eine tiefer gehende Unterhaltung mit Milinka geführt. Nachdem er ihr den Inhalt seines letzten Zwiegespräches mit Nikolai angedeutet, war sie fast begeistert in der Zustimmung zu den Motiven, welche Sergey für sein Zurückziehen von der Welt geltend machte. Er war davon so angenehm bewegt, daß er sich nicht enthalten konnte, auch die ältere Schwester zu einer Entscheidung über die Frage aufzufordern. Er gab ihr zuvor noch die Gründe für seine eigene Entscheidung an.
Matrjona dachte einen Augenblick nach und sagte dann sehr gelassen: „Die Richtigkeit der Motive zu beurtheilen, die zur Weltabgeschiedenheit veranlassen können, bin ich wohl zu jung und zu unerfahren. Ich glaube jedoch, daß Grundsätze allein hier gar nichts zu sagen haben, sondern nur das Wichtigste und Köstlichste, was ein Mensch nach meiner Meinung besitzt, seine Gemüthsstimmung, eine entscheidende Stimme hat. Ob Einer sich wohler in der Einsamkeit oder in der Welt fühlt, davon hängt es ab. Man kann zur Noth für einen Andern denken, wenn er selbst keine Einsicht hat, aber man kann für keinen Andern fühlen. Und das Glück, das hier die Wahl bestimmen soll, liegt doch immer nur im Gefühl.“
Dies klang nicht so schmeichlerisch wie der Beifall, den ihm Milinka gezollt hatte, aber es lagerte sich wie ein Stoff zu fernerem und langem Nachdenken in seiner Seele ab. Vorläufig, im stillen Hinbrüten während der Heimfahrt, kleidete er diesen Stoff nur in die oft halblaut wiederholten Worte: „Matrjona und Milinka – Martha und Maria.“
Gänzlich entfernt aber war er von dem Gedanken, diesen Gegensatz als eine Frage zu fassen, und „Martha oder Maria“ vor sich hinzusagen.
„Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen zum Ritt in das alte romantische Land!“ so beginnt Wieland seinen „Oberon“. Die Phantasie hat die Fähigkeit und daher die Erlaubniß, auch die denkbar weitesten Klüfte zu überbrücken. Zeit und Raum sind für sie in der That keine realen Dinge. Sie gruppirt Alles, was für sie zusammengehört, in einem idealen Raume und drängt es in einen gedachten Moment zusammen. Wie hätte der weltberühmte „kaiserlich königliche Kammercompositeur“ Gluck, ja nur der kaiserlich königliche Hofcapellmeister Salieri nebst den vornehmen Primadonnen vom kaiserlich königlichen Hoftheater bei einem vorstädtischen Theaterprincipal von dem Schlage Schikaneder's sich je zu Tische befinden sollen? Auch Mozart's schöne Schwägerin, Aloysia Lange, ließ ja nach seinem eigenen Berichte ihr eifersüchtiger Mann „nirgends hin“. Gar nun aber zur Zeit der „Zauberflöten“-Composition, als Mozart viel mit Schikaneder verkehrte und von ihm in der That durch mannigfache Veranstaltung heiterer Geselligkeit bei guter Laune erhalten wurde, war Gluck längst todt und Haydn befand sich in London. Und dennoch, so wenig historische Richtigkeit ein solches „Diner zu Ehren Mozart's bei Schikaneder“ haben kann, so berechtigt ist der bildende Künstler zu einer derartigen Zusammenfassung gleichzeitiger berühmter Persönlichkeiten in einem einzelnen Augenblicke und gegebenen Raume, wie seine Darstellung sie braucht.
Denn ihm steht ein höheres Moment zur Seite, die ideale Wahrheit. Diese sämmtlichen musikalischen Berühmtheiten nebst Haydn und Albrechtsberger weilten in der That zu gleicher Zeit in Wien und „sogen an seiner Sphäre“. Und daß diese Sphäre auf unserem Bilde sich in dem leichtlebigen fliegenden Theaterdirector Schikaneder darstellt, entspricht dem allgemeinsten Charakter des damaligen Wiens, das in der That in dem Paradiese eines naiv heiteren, unbefangenen Sinnendaseins lebte. Die Mutter dieser reichen Kunstentfaltung in der glänzenden Zeit Kaiser Joseph's des Zweiten war eben solche freiere Regung und vollere Spende der Natur. Sie entband die Phantasie wie die Sinne, und was wäre dem Künstler, zumal dem schaffenden Musiker, mehr Bedingung des Schaffens, ja des Lebens! Daß Mozart trotz des glänzenden Anerbietens Friedrich Wilhelm's des Zweiten in Wien verblieb, ja daß selbst Beethoven, der Sohn des ernsteren Nordens, das gleiche Anerbieten ausschlug, obwohl er die Sphäre Oesterreichs und Wiens erst so kurze Zeit gekostet hatte, sagt hier Alles. Die wohlig anheimelnde wärmere Art des Südens und vor allem Wiens band diese Geister an die Stätte, an welche nur Haydn und Albrechtsberger zugleich in der Eigenschaft als geborene Oesterreicher gefesselt waren.
Gluck, aus Baiern stammend, war mit dem böhmischen Granden Lobkowitz nach Wien gekommen und verlebte, nachdem er die Welt mit dem Ruhme seiner „Iphigenie“ und seiner „Armide“ erfüllt hatte, seine alten Tage aus freien Stücken in Wien, das doch damals noch nicht entfernt die Anerkennung seines Genius zeigte, die Paris ihm gezollt. Unter seiner Protection führte Salieri, ein geborener Venetianer, 1769 in Wien seine erste Oper auf. Sie gefiel; er ward der „Abgott des Kaisers“ – und verblieb ebenfalls in Wien bis zu seinem Tode im Jahre 1825. Gleicher Weise fesselte der Genius loci, um ein Wort Goethe's zu gebrauchen, denjenigen Künstler an Wien, der den Musikruf der Stadt zuerst durch alle Welt führte, Mozart. Er war durch den Zufall von Salzburg, wo er geboren ist, nach Wien gekommen: sein Erzbischof, der vorübergehend in Wien weilte, hatte ihn zu sich berufen. Der sehr hochmüthige geistliche Fürst wollte sich mit ihm „gloriren“. Mozart aber weiß es fertig zu bringen, daß er ganz in Wien bleibt. Der Geist dieses Wiens und Oesterreichs hatte es ihm angethan. „Soll ich meinen guten Kaiser ganz verlassen?“ entgegnete er „gerührt und nachdenkend“ auf die königlichen Anerbietungen in Berlin.
Er hatte sich aber zugleich diesem liebenswürdig-heiteren Genius des Landes sozusagen persönlich verbunden, indem er in diesem Wien seine Frau, seine geliebte Constanze, fand. Zwar war sie ebenfalls von außen her in's Land gekommen. Aber die Familie Weber, der auch der Componist des „Freischütz“ angehört, war eine ursprünglich österreichische. Constanze war ihrer hochbegabten Schwester, der berühmten Sängerin Lange, nachgezogen, und Mozart gewann in ihrem Hause eine ruhige Zuflucht, als er sich mit dem harten Erzbischofe überwarf, der ihm „überall wie ein Lichtschirm“ war und ihn vor Allem nicht freiwillig in Wien lassen wollte. Und daß Aloysia Lange gerade neben ihm sitzt? „Bei der Lange war ich ein Narr – das ist wahr, aber was ist man nicht, wenn man verliebt ist! Ich liebte sie aber in der That und sehe, daß sie mir noch nicht gleichgültig ist – und ein Glück für mich, daß ihr Mann ein eifersüchtiger Narr ist und sie nirgends hinläßt und ich sie also selten zu sehen bekomme!“ So schreibt Mozart selbst 1781 in den Briefen an seinen Vater, als er denselben überzeugen will, daß er diesmal kein „Narr“ ist und es sehr ernst meint, wenn er „die Weberische“, seine liebe Constanze, heirathen will. Man findet das Portrait der schönen Sängerin, die uns hier den Rücken zukehrt, in meinem Buche „Mozart's Leben“.
Beethoven's späterer Lehrer, der Theoretiker Albrechtsberger endlich war unweit der Kaiserstadt in Klosterneuburg geboren
verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1880, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_288.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)