Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
Natur leichter erschienen sein, mir eine schriftliche Beichte abzulegen, statt der mündlichen.
Die Art, wie er trotz seiner knappen Ausdrucksweise durchblicken ließ, daß ihm Anna tief in’s Herz gewachsen, rührte mich. Er faßte ihre Weigerung nur als Folge der Ueberraschung auf und rechnete auf die Zeit. Daß er, dem Anna’s täglicher Verkehr mit mir bekannt war, gar nicht auf den Gedanken kam, hierin die Ursache ihres Nein zu suchen, bewies schlagend genug, in welchem Licht der Verstümmelte unbefangenen Augen erschien.
Das alte Leben nahm seinen Fortgang. Nicht für lange Zeit! Kaum sichtbare Fäden spannen unmerklich ein Netz um mich, das mich nicht mehr frei athmen ließ. Nichts schien verändert, und doch war alles anders. Nicht das Kind sah ich mehr – ich sah das junge Mädchen. Einfluß auf sie zu üben war ich gewöhnt, nun aber erschütterte es mich seltsam, wenn ich das süße Gesicht bei meinem flüchtigsten Wort mit Sonnenschein oder Bestürzung füllte. Bis in’s Herz, bis in jeden Nerv hinein empfand ich, daß dieses liebliche Leben mit allen Athemzügen mein war. Nun wäre es Zeit gewesen, den Vorsatz zur That werden zu lassen: zu gehen. Dennoch zögerte ich. Gedanken, die ich zuvor nie gedacht, waren in mir lebendig geworden und kehrten wieder und wieder, so oft ich sie auch verscheuchte. Warum das Gut nicht halten, das mir ein freundliches Geschick zubereitet? Wo steht geschrieben, daß ein Enterbter auf jeden möglichen Gewinn verzichten müsse? Dieses Kind an meiner Seite, mir zugehörig lebenslang – und ich wäre geborgen. Der beste Theil dessen, was mir geraubt worden, war dann ersetzt; Liebe und Güte, süße Jugend mit all ihrem heiteren Reiz würden viel Entbehrung aufgewogen haben. Was dem schlichten Mädchen noch fehlte, sie zur ebenbürtigen Gefährtin auch des Anspruchsvollsten zu machen, konnte ich selbst ihr geben; denn Alles in ihr war Fähigkeit. Und sie, die mit jeder Faser an mir hing, die zu lieben verstand – sie, deren beschwingte Seele alles Höchste aus Instinct begriff, die in Musik lebte wie ein Vogel in den Lüften – würde sie an meiner Seite nicht glücklicher sein als an der des klugen, guten, aber nüchternen Mannes, der um sie warb? – Während der Nachtstunden gewannen solche Gedanken eine namenlose Macht über mich, lockten so lieblich verheißend, daß sie mich unwiderstehlich in ihren Ring schlossen. Bei Tage freilich, wo jede unwillkürliche Geberde mich daran erinnerte, welch ein Krüppel es war, der sich in Träumen von Liebe und Ehe verlor, standen andere Geister auf. Da empfand ich scharf und klar, daß es Mißbrauch und Sünde wäre, ein kaum erwachtes Leben, das sich selbst noch nicht verstand, keinen Begriff davon hatte, was die Ehe sei, an mich zu fesseln. Meine Ruhe schwand unter ewig wiederholten Kämpfen. Ich hatte geglaubt vom Banne der Natur losgerungen zu sein, und er umspann mich stärker von Tag zu Tage. Endlich, nach einer Nacht großer Qual, rang sich der entscheidende Entschluß durch.
Wiederholt war mir, zur Beschwichtigung öfters auftretender Schmerzen, ein Curgebrauch in Wiesbaden angerathen worden. Ich hatte mich stets dagegen gesträubt, da ich die großen Unbequemlichkeiten der für meinen Zustand weiten Reise mehr scheute, als zeitweiliges, ziemlich erträgliches Leiden. Nun beschloß ich, dorthin zu gehen, mit der unausgesprochenen Absicht, nicht wieder nach der Insel zurückzukehren. Joseph war sehr zufrieden, als ich ihn hieß, alles für die Reise Nöthige vorzubereiten, aber im Gärtnerhause wurde lautes Bedauern ausgesprochen; nur Anna sagte kein Wort. Während der Tage, welche vergehen mußten, bis Antwort auf schriftliche Wohnungsbestellung einlief, war sie blaß und schweigsam, ging und kam aber in gewohnter Weise. Ich selbst wich jeder Berührung meiner nahen Abreise aus; am liebsten wäre ich Anna’s Augen ausgewichen, die traurig blickten wie in unausgesprochenem Wehgefühl.
Als Anna am Vorabend meiner Abreise zur gewohnten Stunde in die Villa kam, brachte sie einen Brief mit, schüttelte aber den Kopf, als ich die Hand danach ausstreckte.
‚Nicht an Sie, doch Sie sollen ihn nachher lesen. Erst singen wir zu guter Letzt, nicht wahr?‘
Sie legte den Brief auf den Tisch; ein flüchtiger Blick auf die Adresse zeigte mir Klein’s Handschrift. Nagende Unruhe überkam mich fast wie ein physischer Schmerz.
‚Laß!‘ sagte ich, als Anna im Begriff war, den Flügel zu öffnen. ‚Ich bin heute nicht aufgelegt Musik zu machen. Lesen wir etwas, oder plaudern wir lieber! Gieb mir den Brief!‘
‚Später!‘ sagte sie, leicht die Hand darauf legend, und setzte sich mir gegenüber.
Ich blätterte in einigen Heften und bezeichnete bestimmte Seiten darin.
‚Hier habe ich Dir Aufgaben notirt,‘ warf ich in der halben Zerstreuung hin, welche sich unser bemächtigt, wenn wir nicht sagen können, was wir sagen möchten. ‚Wirst Du so fleißig sein, wie Du Dir vorgenommen hast, während ich fort bin?‘
Sie antwortete nicht; ihr Köpfchen auf die linke Hand gestützt, neigte sie sich etwas über den Tisch hin, mir entgegen. Dann sagte sie ganz leise und eindringlich:
‚Werden Sie wieder kommen?‘
Die unerwartete Frage traf so hart mit meinem Bewußtsein zusammen, daß ich fühlte, wie mir das Blut bis unter die Haare stieg.
‚Ich wußt’ es wohl,‘ sagte sie, als sei mein abgewandter Blick Antwort genug. ‚Warum thun Sie uns das an? Ihnen selbst wird nirgend so wohl sein, wie hier.‘
Die lieben Augen voll Trauer und Innigkeit ließen mir das Herz überfließen.
‚Nirgend, nirgend wie hier,‘ wiederholte ich erschüttert. ‚Und doch muß ich gehen. Um Deinetwillen, Anna, nicht um meinetwillen muß ich gehen.‘
Sie blickte mich mit leuchtender Zärtlichkeit an:
‚Herr Klein sagte einmal drunten bei uns, es wäre traurig, daß Sie keine Frau hätten, Sie zu pflegen. Er meinte auch, jetzt wäre es zu spät. Wenn Sie mich aber lieb haben? Ich würde Ihnen eine gute Frau sein – und – und – glückselig.‘
‚Nie! niemals!‘ rief ich heftig.
Der Glanz in ihren Augen erlosch. ‚Vergeben Sie!‘ sagte sie tonlos; ‚ich habe mich geirrt; Sie machen sich nichts aus mir.‘
Ich sah sie an, und während unter meinem Blicke feines Roth in ihrem zarten Gesichtchen aufstieg, fühlte ich, daß es Zeit war, zu Ende zu kommen, wenn ich vor mir selbst bestehen wollte.
‚Du weißt das besser, Anna; wir wissen es Beide. Was Du denkst, kann sich aber nie erfüllen. Mein Schicksal ist vorgezeichnet; ich muß einsam bleiben, wenn ich in meinen eigenen Augen rechtschaffen bleiben will. Nimmermehr soll Dein junges Leben an das eines alternden Invaliden gekettet werden.‘
Sie drückte die Augen halb zu und lächelte.
‚Wir müssen beisammen sein,‘ sagte sie mit ihrer klaren Stimme. ‚Um so besser für mich, wenn Sie mir nicht weglaufen können! Und um all die Jahre, die Sie älter sind als ich – fünfzehn, glaube ich, oder sechszehn? – sind Sie auch klüger; ist das nicht wieder gut?‘
Plötzlich erstarb ihr Lächeln; lautlos wie ein Schatten huschte sie herüber, glitt neben meinem Sessel auf die Kniee und stützte die gefaltete Hände auf dessen Armlehne.
‚Was Sie sagten, war also Ihr Ernst?‘ athmete sie, und ein dunkler Blick drang in meine traurigen Augen. ‚Das kann ich aber nicht verstehen. Es giebt doch nur Eins: daß man sich lieb hat – was kommt auf das Uebrige an? Ich aber habe Sie über Alles lieb; bei Ihnen sein, ist mein Leben. Gehen Sie fort und kommen Sie nicht wieder, dann gräme ich mich zu Tode.‘
So überzeugt, so schlicht sprach sie das hin, daß es mich überwältigte. Ich neigte mich und faßte das tiefernste Gesichtchen zwischen meine beiden Hände. In der Erregung hatte ich mich selbst vergessen; die Mahnung blieb nicht aus. Jede rasche, unberechnete Geberde läßt mich mein Elend unmittelbar empfinden. Es überlief mich kalt.
‚Anna,‘ sagte ich feierlich, ‚ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß Du nie mein Weib werden sollst. Die Zeit wird kommen, wo Du das verstehst. Ist Dir mein Friede lieb, so laß mich ziehen und zähle auf kein Wiedersehen! Muß ich denken, daß Du Dich grämst, so wird mich das elend machen, aber es ändert nichts. Gehe nun, geh – Gott sei mit Dir, Gott sei mit Dir, mein Frühlingsblümchen!‘
Anna erhob sich und verbarg ihr Gesicht; ich hörte ihr leises Schluchzen. Im nächsten Augenblicke berührten ihre Lippen meine Hand. Dann war sie hinaus.
Als ich eine Stunde später im Begriff war, mich nach meinem Schlafzimmer bringen zu lassen, streifte ich im Aufstützen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_251.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2022)