Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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stellen gewußt nach dem immer stärker anschwellenden Winde, von dem es auch den kundigsten Beobachtern der Epoche schwer wird zu sagen, von wannen er kommt und wohin er führt.
In jedem Falle darf man sich nicht darüber täuschen, daß die Ursache proletarischer Bewegungen niemals die theoretische Begeisterung der arbeitenden Classen für irgend welche Gedanken und Programme, sondern immer und überall ihre tiefe Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen ist. Leben die Arbeiter auskömmlich, so kümmern sie sich blutwenig um alle Weltbeglückungspläne; leiden sie unter mehr oder minder drückenden Uebelständen, so werden sie nur zu leicht die Beute gewandter Verführer. Um also die wahren Ursachen des socialdemokratischen Treibens sicher zu erkennen, darf man sich nicht an die Irrlehren selbst halten, deren noch so gründliche Widerlegung – so weit es sich um die Beschwichtigung grollender Arbeitermassen handelt – wohl etwas, aber nichts weniger als alles und selbst nicht einmal viel bedeutet, sondern man muß genau prüfen, wie die wirthschaftliche Entwickelung das Loos der arbeitenden Classen gestaltet.
Von diesen Gesichtspunkten aus läßt sich nicht verkennen, daß das schnelle Wachsthum der deutschen Socialdemokratie in den sechsziger Jahren eine hauptsächliche Ursache in dem schnellen Wachsthum der Großindustrie hat. Es wiederholte sich auf deutscher Erde, was sich einige Jahrzehnte früher auf englischem und französischem Boden zugetragen hatte. Die Eigenthumsunterschiede gestalteten sich härter und schroffer; alle die schweren Leiden wirthschaftlicher Uebergangszustände traten ein; es zeigte sich namentlich auch die von den Agitatoren mit so wilder Leidenschaft ausgebeutete Erscheinung, daß die Entwickelung des Großbetriebes naturgemäß für die einzelnen Arbeiter die Möglichkeit mindert, zu socialer Selbstständigkeit zu gelangen. Dieses Uebel ist nicht unheilbar; es läßt sich namentlich beseitigen durch Förderung des Genossenschaftswesens, durch möglichste Vervollkommnung der gewerblichen Bildungsanstalten und Lehrmittel, mit deren Hülfe Arbeiter und kleine Gewerbtreibende sich die Vortheile der verbesserten Technik und des rationelleren Betriebes in gleicher Weise wie die Großindustrie anzueignen, und genossenschaftliche Vereinigungen zu ebenbürtigen und erfolgreichen Concurrenten des einzelnen Großfabrikanten sich zu erheben vermögen. Hierzu ist aber eine längere Zeit nöthig; bis dahin ist den Arbeitern in weit höherem Grade, als früher, die Möglichkeit verschlossen, wirthschaftlich einmal auf eigenen Füßen zu stehen, und da dieser Trieb in jeder begabteren und kräftigeren Natur unausrottbar wurzelt, so sprudelt hieraus ein unerschöpflicher Quell der Unzufriedenheit, welcher die Mühlräder der Demagogie nur allzu lustig klappern läßt.
Nun hat in der deutschen Industrie der Großbetrieb niemals entfernt das erschreckende Uebergewicht erlangt, wie in der englischen, und daß er es in irgend absehbarer Zeit erlangen wird, schließt die geschichtliche Entwickelung unserer nationalen Vermögensverhältnisse aus. Ohne pharisäische Selbstüberhebung dürfen wir sagen, daß ähnlich grauenvolle Zustände niemals in der deutschen Arbeiterbevölkerung bestanden haben, wie sie ehedem in England bestanden. Aber dieser Vorzug wurde dadurch wieder aufgehoben, daß die großen politischen und socialen Umwälzungen in den sechsziger Jahren vielfach aufreizend und verwirrend in den arbeitenden Schichten der Nation wirkten. Nicht als ob die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes irgend arbeiterfeindlich gewesen wäre; ganz im Gegentheile, da sie im Laufe weniger Jahre mit freigebiger Hand das allgemeine Stimmrecht, das Coalitionsrecht, die Freizügigkeit, die Gewerbefreiheit gab, muß sie als arbeiterfreundlich im eminenteste Sinne bezeichnet werden. Aber man war vielleicht allzu freigebig mit Freiheiten; in angeblicher Unerfahrenheit sah man zu sehr auf die Licht-, zu wenig auf die Schattenseiten der großen Fortschritte, welche die deutsche Einheit auf wirthschaftlichem Gebiete ermöglichte. Die alten, überlebten Ordnungen, die hemmenden Schranken jedes großartigen Aufschwunges waren freilich spurlos weggefegt, aber nicht mit gleicher Leichtigkeit und Schnelligkeit ließen sich neue, bessere Ordnungen aus dem Boden stampfen; so entstanden unbehagliche Zustände, in deren düsterem Lichte die Arbeiter sich endlich gewöhnten, für eine unverwindliche Schädigung zu halten, was in Wahrheit eine unvergleichliche Hebung ihrer Classenlage war.
Als ein weiteres, wichtiges Moment für das Umsichgreifen der socialdemokratischen Anschauungen in jener Zeit kommt die falsche Haltung der besitzenden und gebildeten Classen hinzu. Was die kleinliche Selbstsucht vieler Unternehmer an den Arbeitern gesündigt hat, ist auf mehr als einem traurigen Blatte unserer neuesten Geschichte zu lesen; fast noch verhängnißvoller war die gründliche Verstimmung des Tones, in welchem die Arbeiterfrage öffentlich erörtert wurde. Nur zu viele socialpolitischen Wortführer, die den englischen Freihändlern glücklich abgesehen hatten, wie sie sich räusperten und wie sie spuckten, verkündeten mit der ganzen Beschränktheit und Hartnäckigkeit des Epigonenthums Gemeinplätze von zweifelhaftester Wahrheit, die in Arbeiterkreisen tief verstimmend wirken mußten. Die öde Lehre des Gehenlassens wurde auf Markt und Gasse mit selbstgefälliger Unfehlbarkeit vorgetragen, gleich als sei wirklich der irdischen Weisheit letzter Schluß darin gefunden, daß der rücksichtslosesten Selbstsucht der freieste Lauf zu lassen sei. Selbst die Einführung von Fabrikinspectoren (vergl. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 8), die neuerdings in der kurzen Zeit ihrer Wirksamkeit schon so segensreich gewirkt haben, bekämpfte man dazumal als unerlaubten Eingriff des Staats in das wirthschaftliche Verkehrsleben.
Diese und manche anderen Umstände von geringerem Gewichte ließen die socialdemokratischen Wellen von der Gründung des Norddeutschen Bundes ab immer mächtiger anschwellen. An den Geschicken des „Verbandes deutscher Arbeitervereine“ ist sehr lehrreich zu verfolgen, wie die steigende Fluth alljährlich eine größere Strecke des festen Landes verschlingt. Diese Kerntruppe staatstreuer Arbeiter, die noch so tapfer gegen Lassalle gekämpft hatte, wandte sich Jahr um Jahr mehr den communistischen Zukunftsträumen zu, bis sie 1868 auf ihrem Verbandstage zu Gera sich für die Grundsätze des internationalen Arbeiterbundes erklärte.
Ermuthigt durch diesen großen Erfolg ihrer rastlosen Bemühungen, unternahmen Bebel und Liebknecht neue Anstrengungen, sich den allgemeinen deutschen Arbeiterverein zu unterwerfen. Allein es gelang weder mit Gewalt noch mit Güte, weder durch die maßloseste Angriffe auf Schweitzer, noch durch zeitweise Versöhnungen mit ihm. Nur einige missvergnügte Agitatoren zweiten Ranges vermochten sie ihm abwendig zu machen; so entschlossen sie sich, vorläufig den deutschen Zweig der internationalen Richtung in einer eigener Partei zu sammeln; aus den abgefallenen Mitgliedern des allgemeinen deutschen Arbeitervereins und der großen Masse des „Verbandes deutscher Arbeitervereine“ bildete sich im Herbste von 1869 auf einem Congresse zu Eisenach die „Socialdemokratische Arbeiterpartei“.
Schweitzer seinerseits war durch seinen geringen Verlust eher gekräftigt, als geschwächt; wenige Woche darauf eroberte er endlich Berlin, das heißt: indem er durch eine gut gedrillte Schaar kräftiger Anhänger jede ihm mißliebige Versammlung anderer Parteien sprengen ließ, maßte er sich mit leider nur zu großem Erfolge eine unerhörte Dictatur über das öffentliche Vereinsleben in der deutschen Hauptstadt an. Was ihm dagegen trotz mehrfacher Versuche nicht gelang, war die Vernichtung der socialdemokratischen Nebenbuhlerin. Vielmehr zählte dieselbe auf ihrem zweiten Congresse, der im Juli 1870 zu Stuttgart stattfand, ihre Anhänger schon nach vielen Tausenden. So schienen beide Secten zwar unter sich unversöhnlich zu sein, aber auf den getrennten Wegen um so unaufhaltsamer dem gemeinsame Ziele sich zu nähern, als ein völlig unvorgesehenes Ereigniß sie wieder in die Anfänge ihrer Laufbahn zurückwarf: es war der deutsch-französische Krieg.
Dem hundertjährigen Geburtsfest desselben gewidmet.
„Heute wird die Bastille gestürmt. Kommst Du mit?“ „Freilich!“ – Diese Nachbarnbegrüßung von Fenster zu Fenster über die Leutragasse Jenas hin geschah in Folge — und war zugleich die Erklärung – der ungewöhnlich lebhaften Bewegung, mit welcher ein mit jeder Minute, die dem Glockenschlage der sechsten Abendstunde näher rückte, wachsender Strom von Studenten und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_245.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)