Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 15. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Wenn es heute noch Touristen in Harnisch und Stahlschienen gäbe,“ äußerte Lora zuletzt in ehrlichem Eifer, „so könnte ich mir Witold nur als solchen Ritter ohne Furcht und Tadel denken, der Prinzessinnen befreit und Drachen bekämpft. Ist er doch eben just wieder darauf aus, und doppelt lobenswerth ist es, daß er es sogar für eine Prinzessin – Hilma thut, aus deren Hand er nicht einmal auf Dank rechnen kann. – Ach, wie häßlich ist es von ihr, da er sich doch so sehr für sie und Heinrich bemüht!“
„Ja,“ sagte Lisa zerstreut. „Heinrich und Hilma sind Lomeda viel Dank schuldig – wir alle,“ setzte sie dann, sich verbessernd, hinzu.
Lora sann ein wenig nach; dann, nachdem sie den Kopf einige Mal gewendet, wie um in die Ferne zu horchen, betrachtete sie ihre Schwester, die sich ganz in ihre Arbeit zu versenken schien, ohne daß dieselbe jedoch dadurch gefördert worden wäre, da der trocken gewordene Pinsel fast immer auf derselben Stelle auf und nieder fuhr und tupfte. Endlich, einem plötzlichen Einfall folgend, begann sie wieder:
„Es ist doch seltsam. Ich sage immer: Witold, und Du nennst ihn stets: Lomeda. Wie kommt das?“
„Gewohnheit.“
„Aber das klingt so philisterhaft feierlich, als ob er ein uralter Mann wäre. Ich könnte mir das gar nicht denken. Zum Beispiel: 'Bist Du mir auch recht vom Herzen gut, Lomeda?' oder: 'Weißt Du, daß ich Dich heute gar nicht mag, Lomeda?' oder 'Mein lieber Lomeda! Da hast Du noch einen Kuß!' Hahaha! Wie lächerlich!“
„Ihr Lachen klang so voll und herzlich und schnitt der Zuhörerin doch in die Seele. Sie vermochte nicht zu lachen.
„Aber das ist wohl bei Euch gar nicht Gebrauch?“ fuhr Lora mit schelmischer Neugier fort. „Wenigstens hat es noch keines Menschen Auge gesehen. Sage, Lisa – küßt Ihr Euch denn gar nie?“
„Daß die Gefragte sich tief auf die Skizze herabbeugte, konnte ihr glühendes Erröthen nicht verbergen.
„Wie Du doch thöricht schwätzest!“ verwies sie der Neugierigen die zudringliche Frage.
„Thöricht?“ rief diese verwundert. „Mein Geschwätz oder das Küssen? Hältst Du dies für thöricht? Kommt es also bei Euch wirklich nie vor – auch nicht versteckt, ganz insgeheim? Höre, das gefiele mir gar nicht. – Habt Ihr Euch denn wirklich nicht lieb?“
Jetzt waren Lisa's Augen plötzlich erhoben und brennend auf die ihrer Schwester gerichtet.
„Wer hat es Dir gesagt? Er?“ stieß sie scharf und unbedacht hervor. Es war eine Eingabe quälendsten Mißtrauens, der sie um keinen Preis zu widerstehen vermocht hätte.
„Gesagt hat mir's Niemand,“ entgegnete Lora schlicht, ohne den Stachel zu ahnen, der Ursache jenes Ausrufs gewesen. „Aber man muß unwillkürlich auf den Gedanken kommen, wenn man Euch so kalt und beinahe unfreundlich an einander vorüber gehen sieht. Als Ihr Euch heirathetet, da war ich zwar nur ein Backfisch, aber ich machte mir doch so meine Gedanken. So wie ich mir die Liebe vorstellte, war's nicht zwischen Euch, und ich begriff Euch Beide nicht; denn in meinen Augen gab's keine schönere Braut, als meine Schwester, und keinen anbetungswürdigeren Mann, als meinen Herrn Schwager in spe – ja wohl, schon damals! Nun, wenn ich auch noch nicht glaubte, daß Ihr Euch liebtet, so vermeinte ich Euch doch auf dem Wege dahin. Aber jetzt – ja, jetzt habt Ihr wohl den Weg verloren – bedenklich abgekommen wenigstens müßt Ihr davon sein.“
Ehe sie fortzufahren vermochte oder von ihrer Schwester, die starr und stumm vor sich niederblickte, eine Antwort erhielt, hob sie, wieder aufhorchend, das Köpfchen. Harro und Frip fuhren mit lautem Gebell um das Haus, und Lora sprang, ihre psychologischen Nachgrabungen auf ein ander Mal verschiebend, munter empor.
„Da kommt schon unser neuer Gast,“ rief sie. „Aber gefahren diesmal. Das sind gewiß die neuen Schimmel, über die er im Handel stand. Die muß ich sehen.“
Und leicht wie eine Elfe war auch sie um die Ecke gehuscht.
„Abgekommen! Verloren – für immer!“ rief das Echo in Lisa's Brust in vielfacher Wiederholung, immer bänglicher und leiser, bis es in einem tiefen Seufzer erstarb.
Da faßte Gretchen nach ihrer Hand. Die Kleine hatte von dem Platze, wo sie spielte, den freien Ausblick neben dem Hause vorüber nach dem Hofe gehabt. Sie war jetzt sehr in Eile.
„Komm, Mama, komm!“ drängte sie. „Papa ist da – da!“
War es möglich? Doch warum sollte das Kind nicht richtig gesehen haben? Sein Gesichtchen leuchtete vor Freude, und es wollte, daß auch Mama sich freuen sollte – das herzige Geschöpf!
Lisa nahm es an der Hand und folgte der kleinen Führerin. Da, als sie eben um die Ecke biegen wollte, stockte ihr Fuß; sie stand wie eingewurzelt.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_237.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)