Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
No. 13. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Rest des scheidenden Tageslichtes reichte gerade noch aus, den Baron zwei wohlverpackte und verschleierte Frauengestalten erkennen zu lassen – es begann seltsam zu hämmern in seiner Brust. Er brauchte sein Auge nicht: eine Ahnung hatte ihm schon gesagt, daß Lisa hier angefahren kam. War es denn denkbar, und war es möglich? Sie?
Doch Gespann und Kutscher kamen aus Sternberg; er kannte sie, und jetzt hob auch schon die eine der Insassen des Schlittens die Hülle von dem frischgerötheten, gesundheitsstrahlenden Gesichtchen.
„Da sind wir, glücklicher Weise ohne von Wölfen gefressen worden zu sein,“ rief sie lachend, daß zwei Perlreihen tadelloser Zähnchen zum Vorschein kamen.
Das mußte wohl Lora sein, die kleine Lora, die er seit dem Tage, wo man ihren Vater zu Grabe getragen, nicht mehr gesehen hatte. Ihm war es damals nur für kurze Zeit möglich gewesen, sich loszumachen, und während der paar Stunden, die er auf Sternberg verweilte, hatte er kaum sonderlich auf das halbwüchsige magere Mädchen in dem engen schwarzen Kleide geachtet, das mit verweinten Augen und rothem Näschen unter den Leidtragenden mitgelaufen war oder in der Ecke gehockt hatte.
„Lora, wie bist Du –!“ begann er unwillkürlich.
„Gewachsen und groß geworden,“ fiel sie ihm hastig in's Wort. „Denke Dir, das weiß ich schon. Du darfst es mir nicht auch sagen, Witold – sonst ist's mit aller Schwärmerei, die ich für meinen großen, geistreichen Schwager empfinde, auf der Stelle vorbei.“
Sie schloß lachend, und mittlerweile hatte er schon die Pelzdecke losgehakt und sie, als die ihm Zunächstsitzende, aus dem Schlitten und auf die Treppe herübergehoben. Noch halb in seinen Armen, bot sie ihm die rosigen Lippen zum wiederholten und herzlich erwiderten Kusse.
Nun wollte Witold auch seiner Frau zu Hülfe eilen, diese war aber schon auf der andern Seite aus dem Schlitten gestiegen, wo sie jetzt mitten im Schnee auf den Knieen lag und Gretchen an sich preßte, die mit freudigem Aufjauchzen ihre Aermchen um Mamas Hals geschlungen hatte und nicht satt werden konnte, sie zu liebkosen, während Harro leise knurrend die Gruppe mißtrauisch umschnüffelte.
„Pfui, Harro, willst Du Mama beißen? Ich mag Dich nicht mehr! Die liebe Mama!“ rief die Kleine und schlug mit dem einen Händchen in das zottige Fell des Spielcameraden. Der Hund ließ es sich gutmüthig gefallen, Lisa aber hatte Gretchen auf den Arm genommen und vernahm schweigend, wie der kleine unschuldige Mund ihre Ahnung bestätigte. Papa hätte gesagt, Mama werde lange, lange nicht wiederkommen. Papa hätte Gretchen erschrecken wollen. Nun bekäme aber Mama auch einen brennenden Schneemann.
Witold nickte mit einem fast scheuen Blick zu seiner Frau hinüber und schien große Eile zu haben, den Gast, der ohne Umstände seinen Arm genommen hatte, unter Dach zu führen. Lisa, welche Gretchen an der Hand hielt, folgte langsam. Im Flur war es schon hell; ein Mädchen mit Licht war herbeigekommen. Auch die Gräfin hatte man schon benachrichtigt, und sie kam den Eintretenden auf der Schwelle des Zimmers entgegen.
„Seien Sie willkommen!“ sagte sie nach den ersten vorstellenden Worten Witold's zu Lora, der sie mit gütigem Ernst die Augen geschaut. „Sie erinnern mich an meine Tochter. Auch sie war so groß und blond wie Sie.
„O bitte, Mama,“ versetzte das liebliche Mädchen rasch in gewinnendem Tone. „Haben Sie mich nur auch ein wenig so lieb!“
Sie beugte sich in kindlicher Bescheidenheit auf die schmale runzlige Hand der würdigen Dame, diese aber faßte ihren Kopf und küßte sie gerührt auf die Stirn.
Nur eine gemessene kalte Kopfneigung hatte dagegen Lisa gegolten. „Und ich – ich bin hier fremd,“ sagte Lisa zu sich.
Wie war doch die ihr gewordene Begrüßung so verschieden von dem freundlichen Willkommen, das ihrer Schwester geboten wurde! Selbst dieser mußte es ja auffallen. Lora und Witold hatten sich unbefangen umarmt und geküßt, wie in alter herzlicher Zusammengehörigkeit; zwischen seiner Frau und ihm war noch kein Wort gewechselt worden.
Nun stand sie doch noch vor ihm, reichte ihm die Hand und schlug das Auge zagend zu ihm auf.
„Du hast mir einmal eine Heimath angeboten,“ sagte sie und stockte. Es war ein so düster brennender und erwartungsvoller Blick, dem sie begegnete, und doch nicht der feindselig strenge von heute Morgen, auch nicht das ernste, fast traurig milde Auge, das ihr einst ein solches Vertrauen eingeflößt. Ein ganz anderes Wesen spiegelte sich darin, und sie verlor den Faden ihrer Rede und fast auch den Athem, daß ihre Brust sich hoch und zitternd hob. „Ich möchte Dich um ein Plätzchen für meine Schwester in Deinem Heim bitten.“
„Nur vorläufig,“ fiel Lora jetzt selbst in ihrer frischen Weise ein. „Wir hielten es in Sternberg nicht mehr aus. Ich glaube
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_201.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)