Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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Es hat ohne Zweifel etwas Seltsames, wenn der Laie, wie es thatsächlich häufig geschieht, einem neuen Werke gegenüber nicht eher meint zu einem Urtheil oder auch nur zu einem Eindruck kommen zu können, als bis er darüber belehrt worden, welches Meisters Spuren der betreffende Künstler folgt; geradezu lächerlich aber ist es, wenn er mit der bloßen Rubricirung das Urtheil nicht nur vorbereitet, sondern schon selbst angesprochen zu haben glaubt. Wer gefunden oder erfahren hat, daß ein Lied Schumannisch, eine Symphonie Haydnisch, eine Oper Wagnerisch sei, der weiß höchstens, an welchem Ort ungefähr er das Werk zu setzen, aber durchaus nicht, wie hoch er es zu schätzen habe. Mozart hat bekanntlich einige Arien und Ouverturen „im Händelischen Stil“ geschrieben. Damit ist nur gesagt, daß eine fremde Form benutzt, aber noch gar nichts darüber, mit welchem Inhalt sie erfüllt, ob mit originellen oder nachempfundenem, ob und wieweit dabei die eigene Individualität verleugnet, ob mit diesem Stücke die musikalische Literatur wirklich bereichert oder nur um eine Nummer vermehrt worden sei. Bis zu einem gewissen Grade also sind diejenigen, welche sich die Ohren zuhalten, sobald sie von „Richtungen“ in einer Kunst reden hören, vollkommen im Rechte. Aber der mögliche Mißbrauch jenes Eintheilungsverfahrens schließt keineswegs seine relative Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit, wenigstens als eines vorbereitenden Momentes, aus. Der erste Schritt, den man thun muß, um über irgend eine Art von Gegenständen klar zu werden, ist der, daß man die vorliegende Fülle übersichtlich gruppirt, das Verwandte zusammenstellt, das Verschiedene trennt, selbst wenn es zunächst nur nach oberflächlichen und unzulänglichen Gesichtspunkten geschehen sollte. So gut die Geschichtsschreibung nie aufhören wird, den ununterbrochenen Gang der Ereignisse in Epochen zu zerlegen und in Perioden zu gliedern, so gut dürfen wir, zum Zweck der Uebersicht, gleichzeitige Bestrebungen auf dem Felde einer Kunst oder Wissenschaft in Gruppen ordnen. Eines nur darf nicht vergessen werden: daß durch ein bloses Unterbringen in Fächer die Leistungen eines Gelehrten oder Künstlers werder erklärt noch abgeschätzt sind.
Dieses allgemeine Bedürfniß nach Orientirung durch Zerlegen in Gruppen haben wir im Auge, wenn wir uns anschicken, über die Hauptrichtungen zu sprechen, welche die Musik der Gegenwart beherrschen. Der Streit der Parteien soll uns heute nicht beschäftigen; nur den charakteristischen Eigenschaften, durch die sich die künstlerischen Leistungen der Schulen unterscheiden, sei unsere Aufmerksamkeit zugewandt. Wir wollen nicht richten, sondern nur zu verstehen suchen.
Im Großen und Ganzen haben wir in der heutigen Musik drei Richtungen zu unterscheiden: die antikisirende, die romantische, die neudeutsche. Die erste pflegt auf die Classiker bis Beethoven zurückzugreifen; auf die zweite hat am stärksten Schubert’s Vorbild eingewirkt, während die dritte sich an die späteren Werke Beethoven’s anlehnt. Natürlich fehlt es nicht an zahlreichen Misch- und Uebergangsformen, die zwischen den Hauptrichtungen vermitteln.
Um einen Begriff von den Unterschieden dieser drei Hauptrichtungen zu geben, muß zuerst eine allgemeine Bemerkung vorangestellt werden. Die Denker der Alten bezeichnen mit Recht das künstlerische Darstellen als ein „Nachahmen“ – der Natur nämlich. Nun ist aber weder Alles, worauf unser Blick fällt, der künstlerischen Wiedergabe fähig und würdig, noch darf das, was sich als fähig und würdig erweist, genau so, wie es da vor uns steht, in das Kunstwerk herübergenommen werden. Nur Weniges bietet sich von selber in der Stellung oder Gruppirung dar, wie es der Maler gebrauchen kann; selbst ein guter Photograph pflegt lange an Haltung und Kleidung zu corrigiren. Ebenso steht es um den Musiker, dessen Aufgabe es ist, Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften in Tönen zu schildern. Sind nun Alle darüber einig, daß die Wirklichkeit, um für die künstlerische Darstellung tauglich zu sein, verändert werden müsse, so sind die Meinungen darüber um so verschiedener, was ausgeschieden oder vermindert, was beibehalten und gesteigert, mit einem Worte, wie idealisirt werden solle.
Die Einen – die Vertreter der antikisierenden Richtung – tadeln am Leben, daß es formlos und unregelmäßig sei, daß es die Menschen hastig, unharmonisch und maßlos mache. Seine Kümmernisse graben Runzeln in die klarsten Stirnen; seine kleinen Sorgen lassen keine Empfindung ruhig und breit ausströmen; Allen giebt das Jagen nach Erwerb und Ehre etwas Ruheloses; ja das Handeln an und für sich schon hat etwas Schroffes und Eckiges. Im Reiche des Schönen aber walten Maß und Gesetz, Begrenzung und Harmonie. Wohlklang und strenge Form ist das Erste, was die Conservativen unter den Musikern von sich und Anderen fordern.
Sie bevorzugen deshalb auch die großen Allgemeingefühle, welche jenen Alltagsstörungen ausgesetzt sind: die Familienempfindungen, die Begeisterung für’s Vaterland, vor allem die religiöse Andacht, und auch bei den Empfindungen der Einzelnen, der Liebe zum Beispiel, lassen sie die für Jedermann leicht nachfühlbare allgemeine Seite hervortreten. Unter den Charakteren üben die gerundeten, allseitig ausgebildeten, harmonisch ausgeglichenen eine stärkere Anziehungskraft auf sie, als die scharf ausgeprägten, nach einer Seite energisch entwickelten. Die Kunst soll, so sagen sie, mäßigen, formen und glätten, das Maßlose bändigen, das Aufgeregte beruhigen, das Einzelne zum Allgemeinen erweitern. Ihr Schönheitsbegriff des Maßes darf sich auf das hohe Vorbild der Griechen und Goethe’s, in seiner mittleren Periode, berufen.
Die musikalische Fortschrittspartei, die neudeutsche Richtung, hält sich an das leuchtende Beispiel Shakespeare’s. Das Leben ist weit entfernt, die Charaktere eckig zu machen; es schleift ihre Ecken leider allzusehr ab. Nicht das Allgemeine, sondern das Besondere ist das Werthvolle. Das Leben macht stumpf und schlaff und läßt verkümmern, was etwa als kraftvoll Ursprüngliches geboren wird. Zeigt uns doch irgendwo in der Wirklichkeit jene energischen Personen, jene großen Leidenschaften und gewaltigen Schicksale, die von der Bühne des britischen Dichters herab die Herzen erschüttern und erheben! Klein ist, was uns umgiebt, klein und schwächlich. Der bürgerliche Mensch, noch mehr der Mensch des Salons, ist unoriginell. Die Gesellschaft nivellirt, die Convention erstickt das Urwüchsige; die Cultur macht Jeden dem Andern ähnlich.
Wenn so das Leben zur Mittelmäßigkeit und zur Unwahrheit erzieht, soll uns die Kunst das Außerordentliche zeigen und Wahrheit lehren. Sie soll nicht beruhigen, sondern aufrütteln, indem sie das Große, Kraftvolle und Eigenartige darstellt; sie soll nicht abschleifen und runden, sondern in’s Individuelle zuspitzen. Statt Wohlklang, formeller Glätte und Regelmäßigkeit ist ihr oberstes Gesetz natürlicher, wahrer und kräftiger Ausdruck. Nach dem Gesagten kann es nicht befremden, daß bei den Neudeutschen an die Stelle der den Conservativen heiligen strengen Formen deren freiere treten. Der neue Inhalt verlangt eine neue Form. Die Fuge macht einer beweglichen Vielstimmigkeit Platz; die herkömmlichen drei oder vier Sätze der Symphonie weichen der einsätzigen „symphonischen Dichtung“; die dort gesonderten Gegensätze treten hier nahe zusammen. Wo bei jenen breite Chöre und lange Arien, jede die anfänglich angeschlagene Stimmung bis zu Ende festhaltend, einander ablösen, finden wir bei diesen nach Art des Finale durchcomponirte wechselvolle Scenen. Bei den ersteren hat der Contrapunkt die Aufgabe, die Empfindung zu regeln und zu zügeln, bei letzteren, das lebendige Durcheinander widerstreitender Gefühle auszudrücken. Bei jenen tönt die Empfindung in breiter achttactiger Melodie aus, bei Richard Wagner verdichtet sich eine ganze Stimmungswelt zu einem schlagkräftigen knappen Leitmotiv.
Die Mittelpartei – die romantische Richtung – nimmt in der That eine vermittelnde Stellung ein. Sie hat mit der antikisierenden Richtung den Sinn für das Geordnete, Abgeklärte, Maßvolle gemeinsam, und sie ist zugleich individualistisch und charakteristisch wie die Neudeutschen, nur daß sie die Stoffe, welche sie darstellt, nicht der Welt draußen entnimmt, sondern der innern Welt des Künstlers, der Phantasie und der Gefühlsstimmungen. Einige von den
Romantikern meinten geradezu
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_190.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)