Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
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No. 12. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Während sie die mit alterthümlichen Waffen geschmückte Treppe langsam hinanstiegen, erzählte Lora mittheilungsbedürftig, daß sie beim Eintreffen der telegraphischen Abberufung aus der Pension der Meinung gewesen, man wolle ihr für den Rest des Carnevals noch die irdische Glückseligkeit eines Balles, oder gar mehrerer, bereiten, wie denn auch die ihr zur Begleitung mitgegebene Musiklehrerin sie während der kurzen Reise in diesen Hoffnungen bestärkt habe. Die Enttäuschung sei dann freilich eine sehr harte gewesen, als sie am vergangenen Abend bei ihrer Ankunft statt der Festvorbereitungen nur finstere, vergrämte Gesichter angetroffen, die eher eine Leichenfeierlichkeit zu verheißen schienen als Ballfreuden. Bei all dem, was sie später erfuhr, war doch ein Lichtgedanke vorherrschend geblieben, der dem kindlichen Gemüthe über alle Traurigkeit hinweghalf: die Gewißheit, nicht mehr in das Bauer zurückkehren zu müssen, aus dem das nach der Freiheit so sehnsüchtig ausblickende Vöglein jubelnd ausgeflogen. Mochte auch das Vermögen verloren sein, es regte sich fast etwas wie Schadenfreude darüber in dem kleinen Herzen, daß nun die Pension in dem theuren Institut nicht mehr weiter bezahlt werden konnte. Die Welt lag offen vor ihr – endlich, endlich! Was that alles Uebrige zur Sache!
Es war ein himmelweiter Unterschied zwischen dieser Denkweise Lora's und der Stimmung ihrer übrigen Angehörigen. Beim Eintritt in das Wohnzimmer wurde Lisa von Heinrich empfangen; Richard ging, unbekümmert um die Eintretenden, mit langen Schritten in dem düstern, nach der jüngsten Mode mit schwerfälligen gothischen Schnitzmöbeln ausgestatteten Gemache auf und ab, und Frau Hilma saß, steif aufgerichtet, in einem der hochlehnigen Sessel, die sämmtlich mit dem gestickten Ritterwappen derer von Mildner – einem goldenen Mühlrade im blauen Felde – von ihrer eigenen kunstfertigen Hand geschmückt worden waren.
Die magere Gestalt bewegte sich kaum, nur der schmale hohe Kopf neigte sich, Lisa begrüßend, ein wenig. Ihre Brauen waren gleich denen ihres Schwagers unheilvoll gerunzelt, was sie nicht gerade verschönte. Ein Kampf mit scharfen, wohl gar vergifteten Pfeilen mußte stattgehabt haben, und sichtlich nur durch das Aufgehen der Thür war das letzte noch unabgeschossene Wort auf Hilma's vor Aufregung zitternden Lippen gebannt geblieben.
Das ehrliche, breite Gesicht des blonden Recken, der Lisa gegenüberstand, war ungewöhnlich geröthet, und die gutmüthigen Augen des so schwer Betroffenen blickten beinahe furchtsam zu der Schwester hinüber, als ob er fragen wollte:
„Kommst auch Du, um mich zu verdammen?“
Sie aber brauchte nur einen Blick auf die beiden Anderen zu werfen, um zu fühlen, wie Alles, was sie auch auf dem Herzen haben mochte, vor dem Mitleid wich.
„Armer, armer Heinrich!“ sagte sie, ihn voll Innigkeit umarmend, was den großen starken Mann so erschütterte, daß seine breiten Schultern zu zucken anfingen und er plötzlich wie ein Kind in Schluchzen ausbrach. Er brauchte eine Weile, ehe er die Schwester aus seinen Armen ließ.
Eine ganz entgegengesetzte Wirkung hatte Lisa's Ausruf jedoch auf ihre Schwägerin geübt.
„Armer Heinrich, ja, armer Heinrich!“ ließ sich ihre harte schneidende Stimme vernehmen. „Ich denke wohl, daß sich das Mitleid ein Object aussuchen könnte, das dessen würdiger ist. Arm – arm sind andere Leute, die man in eine vergoldete Falle gelockt, um sie dann darin verhungern zu lassen.“
„Nicht ich habe diese anderen Leute gelockt – nicht ich!“ vertheidigte sich Heinrich mit erstickender Stimme.
„Einerlei!“
Der Vorwurf schien auch Richard verdrossen zu haben. Sich gegen die Klägerin wendend, fuhr er mit etwas ungeschlachtem Witze heraus:
„Du hättest eben dem Speckgeruche nicht zu folgen gebraucht. Warst Du doch kein so harmloses Mäuslein mehr.“
„Man merkt Deinen Ausdrücken den Casernen- und Stallduft an,“ gab Frau von Mildner spitz zurück, während ihr Blick Lora, der ein leises, durch kein nachträgliches Husten mehr zu bemäntelndes Kichern entschlüpft war, durchbohren zu wollen schien.
„Ei was, Du spritzest auch nicht mit Eau de Cologne um Dich,“ entgegnete Richard barsch, und wie ein echter Reitersmann, der sich im dichten Handgemenge, ohne von Hieb zu Hieb viel Zeit verstreichen zu lassen, rasch herumwendet und nach allen Seiten um sich haut, kehrte er sich sogleich wieder gegen den Bruder. „Aber wahr ist's, arm sind zunächst andere Leute, die man dazu gemacht hat. Warst Du unfähig, so hättest Du nicht Andere bevormunden, sondern Dir selbst einen Curator setzen sollen. Es ist unverantwortlich, wie Du gehandelt hast! Aber freilich, da hieß es immer 'der leichtsinnige Bursche, der Richard, man muß ihm Zügel anlegen ihn unter dem Daumen behalten und ein Beispiel sollt' er sich nehmen am soliden Heinrich.' Saubere Solidität das, die Andere an den Bettelstab bringt!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_185.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)