Verschiedene: Die Gartenlaube (1880) | |
|
Jungfrauen, welche das bunt bemalte Holzkreuz und die Flitterkronen aus buntem Papier, Rauschgold und künstlichen Blumen trugen, welche auf den Sarg gelegt, dann aber in der Kirche, meist im Eingang des Thurmes, wo die Glockenseile herabhängen, aufbewahrt werden, bis sie zerfallen, wie bis dahin wohl auch meist die Erinnerung an Den zerfallen ist, dem sie das Geleit gegeben. Die nächsten Angehörigen oder Verwandten schlossen den geordneten Zug; dahinter drängte ziemlich willkürlich die ganze übrige trauernde Gemeinde.
Auch Nannei hatte, ihrem Vorsatz gemäß, dem Begräbniß-Gottesdienst beigewohnt. Die Erinnerung an die erst vor so kurzer Zeit erlittene Demüthigung war aber so lebhaft in ihr, daß sie sich in der Kirche alle Mühe gab, nicht aufzufallen; sie drückte sich ängstlich in einen Winkel unter der Empore und vergrub die verweinten Augen in das Gebetbuch, damit sie ja nicht gesehen oder gar erkannt werden sollte.
Sie war allein. Ihr Pflegevater, der Pechler Kaspar, fehlte bei der Feierlichkeit, wohl weil er eines Anzuges entbehrte, wie er zu einem solchen Anlaß schicklich war.
Auch nachher war das Mädchen bestrebt, dem Gedränge und den Augen der Menge zu entgehen, und hatte sich daher bei Beginn des Zuges durch eine Seitenthür in's Freie geflüchtet. Sie wollte noch einen Besuch an dem Grabe mit dem weißen Rosenstrauche machen, zu welchem sie auf einem Nebenwege unbeachtet zu kommen hoffte – war es doch der abgelegenste Theil des Kirchhofes, wo sich derselbe nebst dem Beinhause befand. Diesmal aber hatte sie trotz aller Klugheit falsch gerechnet; denn der Zug kam ihr auf seinem Wege um die Kirche unmittelbar entgegen. Sie mußte, um auszuweichen, seitwärts zwischen die Gräberreihen treten, und als der Zug, immer breiter werdend, auf dem schmalen Kirchenwege nicht mehr Raum genug hatte, befand sie sich, ohne zu wissen wie, mitten unter den Leuten, und zwar gerade mitten unter den schwarzgekleideten Jungfrauen mit dem Kreuz und den Todtenkronen.
Die im Zuge Dahinschreitenden hatten alle die Rosenkränze um die Hand geschlungen und sagten mit lauter, kreischender Stimme die Litanei her, indem ein Vorbeter die Gebete vorsprach, in welche sie dann Alle antwortend einfielen. Schon nach wenigen Augenblicken verrieth einige Schwankung in dem gleichmäßige Tonfall der Betenden, daß etwas geschehen sein mußte, was die Aufmerksamkeit derselben ablenkte; es währte nicht lange, bis sich in die heiligen Worte sehr weltlich klingende Ausrufungen des Unwillens mischten. Durch den plötzlich eingetretenen Todesfall war auch die Kunde von allem Uebrigen, was sich im Zusammenhang mit dem königlichen Besuche auf dem Kogelhofe zugetragen, überallhin auf Windesflügeln wie Unkrautsamen ausgestreut worden und hatte nicht verfehlt, das günstigste Erdreich zu finden; und wenn man schon wegen der Geschichte mit dem Blumenbusche Nannei des Hochmuths beschuldigte, war dieses in noch höherem Grade der Fall, als man von ihrem plötzlichen und heimlichen Dienstaustritt erfuhr, der offenbar mit dem Vorausgegangenen im Zusammenhange stand. Die jetzige Begegnung aber steigerte die ungünstige Stimmung gegen das arme Mädchen zum Aeußersten, denn es lag nahe, in dieser Anwesenheit Nannei's beim Begräbnisse nur eine trotzige Fortsetzung ihres Benehmens zu erkennen.
„Was ist denn das? Wie kommt denn die daher? Wie untersteht sich denn das Leut, unter die Klagjungfrauen zu gehen?“ waren die bald immer vernehmlicher klingenden Einschaltungen zwischen den Bitten des „Vater unser“, und der Zug drohte in's Stocken zu gerathen. Der unweit des Pfarrers einherschreitende Gemeindevorsteher ward jedoch des Vorgangs kaum gewahr, als er auch schon den Grund desselben entdeckte und so eilig wie möglich sich durch die Trauernden drängte, um ihn zu beseitigen.
Im vollen Bewußtsein seiner Amtswürde, mit einem Kopfe, der gleich dem eines Truthahns glühte, sprang er auf Nannei zu und hatte sie im Nu am Arm gefaßt und bei Seite gerissen, daß der Zug seinen Weg fortsetzen konnte; Nannei, die in ihrer Verwirrung ganz unbehülflich dagestanden, war gegen die Kirchenwand getaumelt und hielt sich an einem Kreuze fest.
„Mußt Du Dich g'rad' in den Weg stellen? Was hast Du hier zu thun?“ schrie der Vorsteher mit unterdrückter Stimme, aber noch immer laut genug, daß alle Umstehenden es wohl hören konnten. „Willst Du uns auch da noch Unfrieden machen?“
Das Unerwartete hatte Nannei einen Augenblick außer Fassung gebracht. Anrede und Benehmen des Vorstandes gaben ihr dieselbe zurück. Sie richtete sich gegen ihn auf, und durch die Thränen, die ihr Auge umflorten, traf ihn ein so kräftiger Blick, wie er Lenz getroffen hatte bei der entscheidenden Begebenheit in der Festtenne.
„Warum soll ich nicht da sein?“ fragte sie fest. „Ich mein', ich hab' wohl ein Recht dazu. Es ist nur meine Schuldigkeit, daß ich dem braven Mann die letzte Ehre erweise, der mir schier wie ein Vater gewesen ist und bei dem ich aufgewachsen bin.“
„Ja, und dem Du davon gelaufen bist noch vor seinem Hinende!“ entgegnete der Vorsteher spöttisch. „Ich kann mir denken, was das für eine Betrübniß sein muß. Aber es ist mir ganz recht, daß ich Dich antreffe; als Vorsteher habe ich ohnehin noch ein Wört'l mit Dir zu reden. Bei uns ist es nicht der Brauch, aus dem Dienst zu laufen, ohne daß man vorher aufsagt zur rechten Zeit. Ich werde es dem Gemeindediener sagen, daß er Dich packt und auf das Landgericht führt.“
„Da werde ich mich auch zu verantworten wissen,“ entgegnete Nannei, deren Festigkeit und Schnellkraft immer mehr emporstrebte, je mehr man sie zu beugen versuchte. „Ich habe ein gutes Gewissen und fürchte mich vor keinem Menschen, und wenn er noch zehn solche Pfennige im Knopfloch hätte wie Ihr. Ich laufe Euch nicht davon; wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es lange gekonnt, und wer mich sucht, der kann mich finden. Ihr wißt, wo ich daheim bin: in der Hütte des Pechler Kaspar, da bin ich zu treffen.“
Der Vorsteher schien unschlüssig, was er beginnen sollte. Wohl hatte sich bereits der größte Theil des Zuges weiter bewegt und war um die Kirche verschwunden; das Verstummen des Gesanges zeigte auch, daß die Feier beendet war – dennoch war eine ansehnliche Anzahl Neugieriger zurückgeblieben, die sehen wollten, welchen Ausgang das so unfeierliche Nachspiel haben werde. Ein einfacher Rückzug erschien dem Vorsteher als eine Beeinträchtigung seiner Würde, und für eine Fortsetzung seiner Thätigkeit mochte ihm der Ort und wohl auch der Anlaß nicht besonders geeignet scheinen. Zum Glück wurde er seiner Zweifel durch einen Zwischenfall enthoben.
Zur Classe derjenigen Berühmtheiten, welche durch unablässige, eifervolle Arbeit, durch treues Festhalten hoher Ideale, durch begeistertes Streben nach der Erreichung eines erhabenen Lebenszieles sich den Boden zu erobern hatten, auf dem sie dann weithin durch Anregung und Lehre, durch Wort und Schrift für die Entwickelung des nationalen Lebens Bedeutung gewannen, gehört Friedrich Kreyssig, der am 20. December des vergangenen Jahres mitten aus einer an Erfolgen reichen Thätigkeit als Schulmann, als Schriftsteller und Redner durch den Tod abgerufen wurde. Kreyssig’s Leben ist, fast von Kindheit an, ein harter, heißer Kampf mit dem Schicksal gewesen, in dem der Verstorbene immer Sieger geblieben ist, der seine Elasticität gesteigert, seinen Geist geschärft, seine Arbeitskraft unglaublich gestärkt, der nun indeß auch bittere Stunden bereitet, ihn um das ruhige, behagliche Lebensglück gebracht hat, das der Entschlafene immer ersehnt, immer in der Ferne vor sich gesehen, ohne es jemals erreichen zu können: ein armer Mann, von dessen Reichthum viele tausend Andere Schätze gesammelt haben. Ein Trost, eine Hülfe, eine Zuflucht versagte ihm niemals: die Arbeit! In ihr hat er Alles gefunden; zu ihr zog er sich zurück, wenn das Leben ihn arg umwetterte, im Hause, im Berufe, in der Oeffentlichkeit.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_076.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)