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Seite:Die Gartenlaube (1879) 871.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und wenn Du Dir selbst überlassen bleibst, so wirst Du nicht gesund, armer Maurus!“

Ich fühlte, daß er Recht hatte; allein mir war, als sagte eine Stimme in mir: Geh’ nicht!

„Alphons, jetzt kann ich nicht mit Dir gehen, nicht so plötzlich. Laß mir ein wenig Zeit zur Ueberlegung!“

Er nickte.

Es lag eine stille Freudigkeit über dem Meere, und Alphons bestieg das Schiff mit heiterer Stirn; als er mich aber in seine Arme schloß, ward sein Auge dennoch feucht.

„Mache Dir keine Sorge um mich,“ sagte er leise, „und wenn Deine Zeit hier um ist, so komme zu mir. Leb’ wohl, lieber, lieber Maurus!“

Den letzten Menschen, der ein Theil von mir selber war im Blut und in der Seele, verlor ich jetzt! Heiß stürzten die Thränen aus meinen Augen, als ich in seinen Armen lag – zum letzten Mal.

„Sei stark,“ sagte er und riß sich von mir los.

Ich verließ das Schiff und ging am Strande bis zu einer Stelle, von welcher ich es lange im Auge behalten konnte. Schwarzer Rauch und feurige Funken fuhren aus dem Schlote – Hurrah! tönte es vom Verdecke, und dann glitt das stolze Schiff majestätisch an mir vorüber. Am Ende des Verdeckes stand bleichen Angesichtes Alphons und rief, seinen Hut schwenkend:

„Leb’ wohl, Frankreich! Leb’ wohl, Maurus!“

Das Schiff ging schneller und schneller und warf einen rauschenden silbernen Wasserschweif hinter sich; Alphons’ liebe Züge und seine liebe Gestalt verschwammen vor meinem Auge, und es kam der Augenblick, wo ich sie nicht mehr sah. Lebe wohl, Alphons!

Mit verstörten Sinnen ging ich am Strande weit hinaus; die Wellen netzten mir den Fuß und sagten: Komm! Da erhob sich in meiner Seele mit sanftem Glanze ein Bild – Theresa! Ihre schwarzen Augen blickten mich groß an und mit ganz unsäglicher Trauer, und auf ihren Lippen lag himmlische Sanftmuth.

Ich erbebte. Was war aus ihr geworden? Grämte sie sich? Verachtete sie mich? War sie todt?

„O!“ sagte ich mir, „wende Deine Gedanken von jenem reinen Wesen ab! Du bist nicht werth, an sie zu denken.“

Und ich erhob mich und trug mein Fieber und mein Elend wieder in’s Gewühl der Städte und ließ mich von der Schönheit beleidigen, wie ich sie einst beleidigt hatte.

So lebe ich noch und trinke an der vergifteten Quelle. Ich bin ein Kranker! Ich bin ein Feuer, das nichts löschen kann!




Ein Jahr ist vergangen, seit ich die vorstehenden Blätter schrieb, und manche Schmerzen kamen noch über mich. Alphons ist todt! Er stürzte, als er zur Vertheidigung einer von betrunkenen Europäern beleidigten Indianerin über die Prairie sprengte, vom Pferd und brach das Genick. Er liegt auf der Prairie begraben, und der Hufschlag der Pferde geht über sein Gebein. Einsam liegt er und verloren unter dem hohen Grase.

Als ich die Nachricht erhielt, wurde es völlig Nacht in mir. Ich hatte jetzt Alles verloren!

Monate lang war ich die Beute des Grames und des Trotzes; bald erlahmte ich, bald bäumte ich mich. Mir graute vor der furchtbaren Zerrissenheit meines Innern und flehend erhob ich meine Arme in der Finsterniß der Nächte und betete zu der furchtbaren Göttin um Erlösung.

Da kam der Frühling; es wehten die Märzstürme, die den Veilchenduft ankündigen und die Sehnsucht, und es fing etwas in mir zu stürmen an: der Drang nach der Ferne! Und dann kamen die sanfteren Lüfte und es reifte in mir der wehmütige Entschluß, auszuwandern. Vielleicht, sagte ich mir, finde ich noch die Hütte, welche Alphons sich gezimmert hatte, und vielleicht genese ich durch Arbeit. Vielleicht auch finde ich dort einen schnellen Tod, wie er.

Ich ging nach Rouen und nahm Abschied vom Grabe meiner Großmutter. Ich litt sehr an jenem Grabe. Sohn und Enkel, beide zu Grunde gerichtet!

Aber ich sagte mir, daß ich noch schwerer leiden müsse; ich legte mir die Buße auf, auch von Theresa’s Hause Abschied zu nehmen, doch wartete ich, bis es dunkel wurde. Dann ging ich mehrmals an ihrem Hause vorüber, und ich hatte ein Gefühl, als sollte ich eintreten und zu Theresa’s Füßen niedersinken. Aber da ich plötzlich Licht hinter den Fenstern sah, ergriffen mich Angst und Scham.

Ich wollte mich vor ihr zeigen? Und was wollte ich ihr sagen? Nachdem ich Dich verlassen und Jahre lang, Dich und meine Manneswürde beleidigend, zum Gespötte der Menschen vor den leichtfertigen Altären der Schönheit auf den Knieen gelegen, jetzt komme ich wieder zu Dir!?

Nein, nein! Diesen Schmerz gebe ich Dir nicht zu trinken, Theresa!

Ich könnte Dich ja auch nicht von dem Unglaublichen überzeugen, daß ich Dich nie vergessen habe, daß Du in meiner Nacht voll Irrlichtern der einzige Stern warst, meiner Seele Sehnsucht und meines Gewissens Qual!

Fort, fort! Wohl Dir, wenn Du mich vergessen hast!

Aber noch mehr wollte ich büßen: ich wollte auch von meiner Eltern Hause Abschied nehmen.

Es war im April und gegen Abend, als ich dem Meeresstrande nahe kam. Das Meer lag ruhig und bereit, die Sonne zu empfangen; unnennbar weich war die Luft, und aus dem Garten drang süßer Fliedergeruch zu mir. Da lag es, das Haus mit den zwei spitzigen Thürmen, traulich vom Epheu umschlungen. Das Herz klopfte mir mit wilden Schlägen – ich dachte an meine blonde Mutter, an meinen braunen Vater und an die selige, selige Kindheit!

Ich näherte mich dem Hause in der Absicht, einen Epheuzweig abzupflücken. Wer mag es wohl bewohnen? fragte ich mich. Die Fenster waren, zwei ausgenommen, alle geschlossen, aber die Hausthür stand offen. Ich dachte, es sei vielleicht nur während der Sommermonate bewohnt und in der übrigen Zeit des Jahres durch Jemanden aus dem Dorfe beaufsichtigt, und dieser Gedanke gab mir den Muth, einzutreten. Ich athmete beklommen, als ich die breite, braune Treppe betrat und dem großen Fenster mit den farbigen Scheiben entgegenstieg. Mein Eigenthum und nicht mehr mein Eigenthum! Und jetzt stand ich vor der Thür des großen Saales; es war so stille im Hause wie in einer Ruine. Ueber der Thür blickte im braungoldenen Rahmen eine spinnende Normannenkönigin auf mich herab, und ihr vorwurfsvoller Blick drang bis in die Tiefen meines Herzens. Wie ein Verbrecher, der entdeckt zu werden fürchtet, spähte ich nach beiden Seiten des Ganges und drückte dann leise auf die Thürklinke. Sie ging leicht, doch als die Thür beim Oeffnen ein wenig knarrte, schreckte es mir alle Nerven auf. Dennoch trat ich ein, langsam und leise – und es war Niemand im Saale.

O Jahre, vergangene, verlorene, wie kommt ihr über mich! Es befiel mich ein Zittern, ich mußte mich an die Wand lehnen, denn meine Kniee drohten zu brechen. Die Wände riefen mir zu: Heimathloser, was willst Du hier? Fürchtest Du nicht, daß wir auf Dich stürzen, Ungetreuer, der Du uns verkauft hast, uns, die Deine Kindheit schützten vor Regen und Sturm, die Deines Vaters Leiche sahen und den Jammer Deiner Mutter?

Da schrie ich auf und bedeckte mir das Gesicht mit beiden Händen, und ich wünschte, die Wände möchten einstürzen und mich begraben. Fort, fort auch von hier! – Und wie mir die Hände vom Gesichte sanken und ich noch einen Blick über den Saal warf, da stand unter der Thür zu meiner Mutter Zimmer eine Gestalt – und als ich zusammenfuhr, sagte die Gestalt mit Theresa’s sanfter Stimme:

„Maurus!“

Ich wurde kalt am ganzen Körper, und der Athem verging mir. Da trat die Gestalt zu mir her – und es war Theresa! – Sie nahm meine Hand und sprach:

„Sie sind unglücklich, Maurus – ich sehe es.“

Und sie blickte mich wehmütig an. Ich rang nach Worten – endlich konnte ich zu ihr sagen:

„Theresa, warum stehst Du nicht vor mir wie der Racheengel mit dem feurigen Schwert? Warum stehst Du vor mir wie ein Engel der Güte?“

„Maurus,“ sagte sie bewegt, „komm’, setze Dich zu mir, Du zitterst ja, Du kannst ja nicht mehr stehen!“

Und sie führte mich langsam und schonend zu einem Sitze und nahm neben mir Platz. Ich vermochte nicht, sie anzusehen; gesenkten Blickes sprach ich:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_871.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)