Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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Reichenau, der neben Frau Ballingen gegangen, aber sofort an Josephinens Seite war, suchte sie durch einen kräftigen Stoß, welchen er gegen den Mann führte, zu befreien. Dieser aber hielt ihre Hand eisern fest und rief, sie an sich reißend:
„Zurück, Herr, mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen, nur mit Der hier! Daß Sie es wissen – meine Braut ist sie vor Gott und Menschen.“
Reichenau sah Josephine, die das Haupt tief gesenkt hatte, betroffen an.
„Er ist wahnsinnig geworden, wahnsinnig,“ gellte Frau Ballingen’s Stimme dazwischen.
„Wäre das ein Wunder?“ fuhr der Mann auf. „Was mir geschehen, wem geschah das? Aber nein, so schwach bin ich doch nicht! Und nun sag’ Du mir, Feinslieb – ist es der neue Schatz? Juch, die Veränderung! Hüten Sie sich aber wohl, Herr!“ damit wandte er sich an Reichenau, „kommt Einer, dessen Larve schmeichlerischer als die Ihre, so kann Niemand gut stehen, ob Sie nicht morgen ohne Sang und Klang begraben werden. Figürlich, mein Herr, figürlich! Ohne Gift – mit einem Lächeln – Sie kennen ihr Lächeln doch? Fluch ihm – es hat mich zum Lumpen gemacht.“
Eine harte Faust packte seinen Arm und grinsend wiederholte der Polizist, mit dem er sich eben gemessen hatte:
„Ja, Lump! So haben wir doch richtig taxirt – vorwärts!“
„Was soll das?“ schrie der Mann zurücktaumelnd.
„Das fragt Er noch?“ entgegnete der Polizist mit festerem Zufassen; „man wird Ihn lehren, anständige Damen zu insultiren. Nur keine Umstände – sonst wird Er geschlossen!“
Josephine hatte betäubt, fassungslos dagestanden; ihre Begleiter versuchten sie fortzuführen; da riß sie sich los, stürzte trotz der Menschen, die sich rasch gesammelt, dem Polizisten nach und rief:
„Haben Sie Erbarmen. Ich bürge für diesen Herrn. Er hat mir nichts gethan, gar nichts; geben Sie ihn frei – es ist der Baron Pranten.“
Dieser, mit einem Ausdruck von Verachtung auf sie herabblickend, sagte rauh zu dem Polizisten:
„Nichts da, gar nicht beachtet – dergleichen Schwatz! Sie sind im Recht; ich folge Ihnen.“
Mit einer kurzen Wendung verschwanden Beide im Dunkel des Bosquets.
Schwer und grau, ob auch die Sonne stets in all ihrem Sommerglanz gestrahlt hatte, waren die Tage für Josephine hingegangen. Was eben erst – nach beinahe zwei Jahren fortdauernden Kampfes – leise zurückzutreten begonnen, war von Neuem vor ihr aufgetaucht. Und in wie verzerrten Zügen! Hatte sie damals wirklich recht gehandelt? Ihr spurloses Verschwinden, das absichtliche Unmöglichmachen jeder neuen Annäherung, wer durfte heute noch behaupten, daß es einer Natur wie Pranten gegenüber das Rechte gewesen?
Was geworden, das verklagte sie nur allzu laut: er war verkommen um ihretwillen. Wenn sie damals die Kraft gefunden hätte, neben ihm auszuharren! Nicht in Liebe, doch mit Theilnahme, in Freundschaft! Hätte sie ihn nicht gehalten? O sicherlich! Dem Leichten – nun kam es ihr leicht vor – war sie aus dem Wege gegangen, um seinem Fluch zu erliegen. Gewiß, kein Mensch, kein Gericht konnte sie verurtheilen: für den Mann galt es die einfache Pflicht, sich aufzuraffen, wie es Unzählige vor ihm gethan, Unzählige noch thun müssen, so lange Menschen – Menschen bleiben; dennoch fühlte sie sich schuldig. Und ob es die Andern Verhängnis nannten, was bedeutete der Name? Es blieb dasselbe, immer dasselbe.
Ihre Phantasie irrte durch die grausigsten Möglichkeiten; der Reichthum, welcher sie umgab, jede Freundlichkeit des Seins lag nun wie ein Vorwurf auf ihr – denn er, er darbte bestimmt. Todt sah sie ihn – wie oft! Mit Zagen entfaltete sie jedes kommende Blatt des Anzeigers; trotzdem schickte sie oft vor der Zeit nach dem Blatte; es dünkte ihr wie augenblickliche Erlösung, wenn sie nichts fand, was auf ihn zu beziehen wäre. Keinen Schritt that sie aus dem Hause, weil es ihr immer war, als müßte er sie dann gerade aufsuchen; jeder Wagen, der einmal dichter an ihrer Straßenseite hinrollte, ließ sie an’s Fenster stürzen, um zu sehen, ob er bei ihr vorführe; kein Klingelzug ertönte, ohne daß sie, an ihre Thür gedrückt, lauschte, wer gekommen.
Auf den Polizeibureaus wagte sie nicht nach ihm zu forschen, weil sie hoffte, daß er neulich unbehelligt geblieben; der Polizist war ihr im letzten Augenblick wie mitleidig erschienen; ihr Forschen also konnte eine Verfolgung erst heraufbeschwören – und wer wußte, ob die nicht zu scheuen war?
Auch die Cousine hatte Alles umsonst in Bewegung gesetzt, um über Cleebronn her bestimmte Nachrichten zu erhalten; daß Pranten vor drei Monaten fortgegangen, blieb die einzige Auskunft. Und von keinem bessern Erfolg waren die discreten Erkundigungen Reichenau’s in der Residenz selbst begleitet gewesen. Es schien ersichtlich, daß Pranten verschollen bleiben wollte.
Frau Ballingen fand das nach dem letzten Auftritt aus Gründen der Scham, eines Restes von Ritterlichkeit ganz natürlich und fand es so am besten für alle Theile, Josephine aber vermochte den Gedanken gar nicht zu fassen. Es dünkte ihr völlig unmöglich, Pranten nie wiedersehen zu sollen; ohne ein Aussprechen, ein milderes Wort des Abschiedes – das durfte Gott nicht zugeben, so schwer hatte sie sich nicht vergangen.
So war schon die dritte Woche nach jener letzten Begegnung herangekommen. Es war Mittwoch Nachmittag, Josephine allein in ihrem Zimmer. Da meldete das Mädchen einen alten Mann, der ihr persönlich etwas abzugeben hätte. Josephine winkte nur: „Das kommt von ihm, von ihm –“ dachte sie halb, halb flüsterten es ihre Lippen.
Der Mann trat herein: ein ihr fremdes, angenehm gutmüthiges Gesicht. Mit großen fragenden Augen blickte sie ihn an und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen. Sie öffnete es hastig; ein Blick auf die Handschrift – es war die seinige. Fast versagten ihr die Sinne, dennoch verstand sie Alles. „Ich komme gleich; werden Sie mich begleiten?“ fragte sie. Der Mann bejahte und erbot sich, eine Droschke zu holen.
Josephine ging nicht mehr zur Cousine hinüber, befahl sogar, ihr erst später zu melden, daß sie ausgefahren, und stieg mit dem Alten in den Wagen.
Nach einer langen Fahrt hielten sie vor dem Stadtlazareth. Ueber Pranten hatte ihr Begleiter wenig zu sagen gewußt; er wäre vor zwei Tagen aufgenommen worden und sollte schwer leidend sein. Weiteres hatte er nicht gehört.
Mit unwillkürlichem Schauder sah Josephine zu dem Lazarethgebäude empor; sein grauer, vom Regen verwaschener Anstrich, die dunkeln tief in den Mauern liegenden Fenster gaben ihm etwas Kaltes, beinahe Finsteres trotz des warm darauf ruhenden Sonnenscheins. Noch mehr fröstelte es Josephine in den langen Bogengängen, die sie durchschreiten mußte; alle Fenster derselben gingen auf einen öden, gepflasterten Hof hinaus, und zur Rechten führte Thür an Thür in Krankenzimmer. Aus diesen tönten hier und da undeutliche Laute, sonst überall Stille; nur einmal begegnete sie einem Heilgehülfen, der ein Brett mit Medicinflaschen trug und neugierig die hier wohl ungewöhnliche Erscheinung einer Dame musterte.
Endlich öffnete der Alte eine Thür und nöthigte Josephine, einzutreten. Zögernd, in plötzlicher Schüchternheit, überschritt sie die Schwelle eines gewölbten, hohen Gemaches, welches die gewöhnliche spärliche Einrichtung solcher Räume zeigte. Unweit des Fensters sah sie ein Bett stehen; der darin Liegende hatte sich in dem Kissen aufgerichtet und streckte ihr die Hände entgegen. Sie eilte auf das Bett zu; der Alte ging und zog leise die Thür in’s Schloß.
Für die ersten Augenblicke blieb es lautlos in dem Zimmer; Beide starrten sich in die Augen, als stände in ihnen Alles, was zu wissen Noth that. Dann nickte Pranten schmerzlich und bat sie durch eine Bewegung, sich auf den Schemel zu setzen, der am Bett stand.
„Wie unendlich gut von Dir, daß Du gekommen bist!“ sagte er weich, indem sie sich setzte.
„Schon all’ die Tage lang erwartete ich Dich,“ erwiderte sie.
„Das konnte ich nicht wissen, vielleicht wäre ich sonst gekommen. Selbst zu meiner heutigen Bitte trieb mich nur die Nothwendigkeit; eine doppelte: sie sagten mir, zum Abend bekäme ich einen Cameraden in’s Zimmer; dann hätte ich Dich nicht mehr sprechen können.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_731.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)