Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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„Und der meinige ebenso wenig,“ bat Pranten mit einem raschen Handkuß.
„Ach, mit Euch ist heute wieder einmal nichts Vernünftiges anzufangen,“ entgegnete Frau Ballingen ärgerlich und erhob sich. „Wenn ich wieder heraufkomme, seid Ihr hoffentlich traitabler; ich werde die Damen grüßen.“
„Von ganzem Herzen,“ erbat sich Pranten.
„Das ist durchaus unnöthig,“ bemerkte Josephine.
„Also nur von einem Herzviertel,“ rief Pranten der in der Portière Verschwindenden nach.
Er lächelte Josephine noch einen Augenblick in glücklichem Selbstvergessen zu, dann stand er auf: „Die Luft ist heute so mild, und als ich kam, war der Himmel voller Sterne – laß uns noch einmal auf den Altan treten!“
Josephine nahm ein Tuch und erwiderte, indem sie sich fröhlich an seinen Arm hing: „Gern! Da sagen wir gleich den lieben Sternen für dieses Jahr Ade und auf Wiedersehen! Wir sind gar poetische Leutchen, Felix. Aber,“ setzte sie im Heraustreten hinzu, „die Sterne sind ungalant, ohne jede poetische Regung. Nicht wahr, nirgend ein Schimmer – Alles so dunkel.“
Am Himmel glänzte Stern bei Stern; selbst fern am Horizont ein Flimmern und Leuchten wie in schwüler Sommernacht.
Pranten vermochte seine Erregung nicht zu beherrschen; sein Arm zitterte. Ahnungslos über den Beweggrund sah Josephine zu ihm auf.
„Dich friert; wollen wir hineingehen? Oder hole Dir wenigstens den Mantel!“
Pranten nickte und trat in’s Zimmer zurück. An der Flurthür blieb er stehen, indem er die Augen mit der Hand bedeckte. Gleich Blitzen zuckten Gedanken in ihm auf, um ebenso jäh zu schwinden. Ein Aufruhr von Gefühlen war in ihm, daß er im Augenblicke nicht wußte, was nun am gebotensten wäre. Durfte er ihr ohne Vorbereitung sagen, daß die ersehnte Zeit der Operation gekommen schien? Konnte sie nicht erschreckt werden, sich dadurch irgend ein grauenhaftes Ungefähr auf ihre Augen werfen? Oder war es dennoch das Sicherste, wenn er jetzt sprach, um jeder Möglichkeit einer zufälligen Entdeckung zuvorzukommen? Er entschied sich endlich für das Letztere und kehrte hastig um.
„Du bist lange geblieben,“ rief ihm Josephine entgegen, „und hast den Mantel doch nicht um!“
„Mich friert nicht mehr,“ versetzte Pranten, ihren Arm leicht unter den seinen ziehend. „Sieh einmal ganz gerade aus! Da taucht die Venus eben aus Wolken auf. Nicht wahr, die siehst Du?“
„Wo, Felix? Ich finde sie nicht.“
„Aber Josephine!“
„Sei doch nicht ungeduldig, warte nur! Da! – nein. Sie ist gewiß schon wieder unter Wolken. Ach, Du neckst mich blos, und das ist gar nicht recht von Dir.“
„Ich Dich necken, Josephine? Wenn ich Dir nun sage, daß der ganze Himmel –“
„Warum stockst Du? Was ist am Himmel? Ich sehe ja Nichts.“
„Und doch strahlt er gerade heute in Myriaden von Sternen.“
„Sterne?“
Josephinens Blicke irrten ängstlich umher.
„Die Venus leuchtet, daß wir Schatten werfen.“
„O Gott, Felix – so – so –“
„Ja. Erschrick nicht! Ist es doch zum Guten. Schon vorher ahnte ich’s: wir sind nachlässig gewesen, haben Tage lang die Proben ausgesetzt; nun ist der Augenblick am Ende da, plötzlich, wie über Nacht gekommen. Was dann weiter? Und über ein paar Wochen – denke es doch nur! – da kannst Du wieder sehen – sehen!“
Sie schmiegte sich an seine Brust; er küßte heiß ihre Stirn und führte sie in’s Zimmer zurück.
Hier fiel es über ihre Stimmung wie Schleier; trotz seinem Zusprechen wurde sie immer schweigsamer. Ein unerklärliches Gefühl der Furcht, des Bangens wollte nicht von ihr lassen, und selbst als die Cousine zurückkehrte und Pranten’s Ansichten völlig theilte, vermochte sie sich nicht aufzuraffen. Frau Adelheid wie er mussten bald fühlen, daß es Josephine momentan ein Bedürfniß wäre, allein zu sein; so trennte man sich, obgleich sie verabredet hatten, das neue Jahr gemeinschaftlich zu erwarten.
Innerlich mißgestimmt trat Pranten in die Nacht hinaus. Bevor er das Ende der Straße erreichte, kamen mehrere Herren lärmend aus einer Seitengasse, und einer derselben begrüßte ihn mit dem fröhlichen Zurufe:
„Ah, der schöne Felix!“
Er zuckte zusammen und war schon im Begriffe, dem Sprecher etwas Heftiges zu entgegnen, als dieser ihn unter den Arm faßte und weinselig lallte:
„Den Marodeur nicht losgelassen! Was sie sich alle freuen werden! Und gar die Hulda! Sie fragt noch immer nach Ihnen. In allen Ehren natürlich, Herr Bräutigam! Bloße Freundschaft. Wollte mir’s auch ausgebeten haben.“
In seiner Verstimmung wurde es Pranten leicht, sich von der Gesellschaft loszumachen, doch nicht ebenso leicht von einem Gedanken, der lange gleichsam verschollen gewesen und den jener Zuruf urplötzlich wieder heraufbeschworen. Die halbe Nacht schritt Pranten bei offenem Fenster ruhelos durch sein Zimmer auf und ab. Wie noch niemals, trat heute Möglichkeit an Möglichkeit aus ihrem Schatten. Und dachte er eine äußerste, so war es ihm, als könnte er bis zum Verbrechen kommen. Zwar verwarf er immer gleich, was auch nur als denkbar aufgetaucht, doch mit der Zeit wurde er müder und das Gespenstertreiben überzeugender. Sollte die Operation, was der Arzt so leicht motiviren könnte, wenigstens aufgeschoben werden, bis die Hochzeit stattgefunden hatte? Wenn die Operation überhaupt unmöglich war? Oder – keinen günstigen Verlauf nähme? Pranten schauerte zusammen. Es war nach und nach kalt geworden; ein eisiger Luftzug, der schon den Morgen anzukündigen schien, strich an ihm hin; er schloß den Fensterflügel.
Bald legte er sich auch nieder, doch rechter Schlaf wollte nicht kommen. Immer wieder fuhr er empor: dunkle Bilder verfehlter Operationen schreckten ihn auf, irgend ein flehender Schatten, dem Niemand mehr helfen konnte.
So wurde es fast Morgen, ehe die übermüdeten Sinne der Gedanken Herr wurden und er in ruhigen Schlummer sank.
Brasilien ist das Land der immergrünen Urwälder und hoch ragenden Palmen; es ist das Land der Affen, der Papageien und der niedlichen Colibris und wird durchströmt von dem wundervollen, sagenhaften Amazonenstrom, dem Riesen unter den Flüssen der Erde – ein paradiesisches Land, und doch giebt es dort ein Gebiet von der entsetzlichsten Oede: das brasilianische Geistesleben. Dasselbe könnte für uns kaum Interesse haben, wenn dort nicht in jüngster Zeit die Gestalt eines Predigers in der Wüste aufgetaucht wäre, dessen Erscheinen jeden Deutschen sympathisch berühren muß und der es wohl verdient, von uns beachtet und ermuthigt zu werden; ich meine Tobias Barreto de Meneses, den wackern Fürsprecher für deutsches Geistesleben in Pernambuco.
Frankreichs Literatur war von jeher das Evangelium der Brasilianer und ist es noch heute. Die brasilianischen Universitäten wurden nach französischen Mustern eingerichtet, und nach den Lehren französischer Professoren wird die Jugend Brasiliens auch heute noch unterrichtet. Deutschland ist den Brasilianern nur ein geographischer Begriff, und weder unsere Dichterfürsten, noch unsere gediegenen Fachgelehrten auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Wissens sind ihnen bekannt. Ihre mechanische Nachahmung französischen Wesens hat sie daran gehindert, einen Anlauf zu selbstständiger geistiger Entwickelung zu nehmen, und Alles, was ihre Literatur producirt, trägt den Stempel der Oberflächlichkeit, der Gedankenarmuth, des Nachbetens.
Daß sich unter der unumschränkten Preßfreiheit Brasiliens die Journalistik außerordentlich entwickelt hat, liefert noch keinen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_700.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)