Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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stürzte mit der Stirn auf die Steinstufen, überschlug sich und rollte das Gallerietreppchen hinab auf die Dielen der Amtsstube.
In diesem Moment duckte sich aber auch schon das keuchende Thier mit wüthendem Knurren über den hingestreckten Körper, als wolle es Jeden zerreißen, der seinem gestellten Wilde nahe komme.
„Das ist der Mäuseweg,“ rief Hannchen in wildem Jubel. „Gott im Himmel sei Dank! Mein guter, lieber Vater ist’s nicht gewesen. Der Spion war drüben auf dem Klostergut.“
Sie zog die Polsterbank, über welche Pirat hinweggesprungen war, mit einem Rucke von der Wand, lief durch den wundersam geoffenbarten „Mäuseweg“ und riß den Hund von dem Knaben weg. Aber Veit erhob sich nicht – sein Gesicht verzerrte sich und dicker, weißer Schaum trat ihm auf die Lippen; er lag in Krämpfen.
Die Damen in der Fensterecke, der äußeren Umgebung vollkommen entrückt, hatten weder Hannchen’s und Pirat’s seltsames Gebahren und Aufhorchen, noch das überraschende Erscheinen des Knaben in der Wandtiefe bemerkt. Erst bei dem Aufschrei des Mädchens und dem Geprassel der zerberstenden Holzschnitzerei waren sie erschrocken herumgefahren und hatten den Hund in einer erstickenden Staubwolke verschwinden sehen, und während Donna Mercedes, verwirrt und verstört, regungslos auf ihrem Platze verharrte und den ganzen Vorfall, selbst Hannchen’s Jubel nicht begriff, war die Majorin, von einer entsetzliche Ahnung erfaßt, emporgesprungen.
„Der Spion war drüben auf dem Klostergute!“ hatte das Mädchen gerufen.
Unsicheren Ganges, wie von einem Schwindelanfalle ergriffen, durchschritt die Majorin den Salon. „Großer Gott!“ sagte sie und streckte die Arme gen Himmel, als gelte es, eine hereinbrechende große, unauslöschliche Schande abzuwehren.
Ja, das war die Amtsstube, der Raum, in den man durch den schmalen, tiefen Gang hinein sah.... Gerade dort an der gegenüberliegenden Wand stand das altväterische, mit braunblumigem Kattun überzogene Kanapee, und darüber hing das Pastellbild ihres Großvaters, des alten Klaus, des bravsten und tüchtigsten aller Wolfram’schen Männer.... Seine ehrlichen Augen sahen unverwandt herüber in das Haus des adeligen Geschlechts, das eine ehrlose, verrätherische Nachbarschaft gehabt hatte, ohne es zu ahnen. Aber er hatte auch nicht um diesen Mönchs-Schleichweg gewußt, so wenig wie alle Anderen, die vor ihm dagewesen waren, so wenig wie sein Sohn, der jung verstorbene, wackere Vater des „Herrn Rathes“. Nie hatte irgend eine Tradition oder Familiesage auf einen versteckten Verbindungsweg zwischen den zwei Klosterhäusern hingedeutet. Nur der Letzte war dem Lauscherposten der alten Mönche auf die Spur gekommen, der Letzte, der als Knabe ein Heimtückischer, ein boshafter Duckmäuser gewesen war, ohne daß er es seine Umgebung je hatte merken lassen.
Noch lag ein tiefes Dunkel über der unheilvollen Katastrophe; nur so viel ließ sich ersehen, daß Veit dem Treiben seines Vaters nachgespürt habe mußte. Er lag drüben auf dem Boden hingestreckt. Hannchen hatte den Hund am Halsbande von ihm weggerissen, Hannchen, das Kind des Mannes, der einst um jener fremden Niederträchtigkeit willen Ehre und Leben verloren! Nur wenige Schritte entfernt war die Schwelle, an welcher er damals vergebens seine Ehrenrettung erfleht hatte.
„Der Kleine ist krank,“ rief das Mädchen herüber. Sie scheuchte Pirat mit einer drohenden Armbewegung nach dem Gallerietreppchen, und er trabte kleinlaut die Stufen hinauf und trollte sich auf seinen Platz neben José’s Fahrstuhl.
Ein nicht zu beschreibender Kampf war in der Seele der Frau, die zitternd an der gähnenden Oeffnung stand, aus welcher immer noch Staubmassen, mit herabwirbelnden, feinen Holzsplittern gemischt, aufstiegen. Mit dem Spion, dem Horcher an der Wand, den sie in der Welt den „Herrn Rath“ nannten, wollte sie nichts mehr gemein haben – er war todt für sie; er verdiente nicht, daß sie auch nur einen Finger für ihn rührte, ein Wort zu seiner Vertheidigung laut werden ließ. Aber der dort, und mit ihm die lange Reihe der Alten, Braven, die sich nach einem arbeitsvollen Dasein und unausgesetzten Ringen um einen geachteten Namen friedlich zum letzten Schlaf im Todtenschrein ausgestreckt, sie hatten das Recht, von einer ihrer Töchter die ganze Kraft des Willens und Handelns für das Interesse des Wolfram’schen Hauses einzufordern. – „Sieh zu, was zu retten ist an der Reputation die unser höchster Schatz seit Jahrhunderten gewesen!“ schien ihr der ernste, würdige Graukopf von der Wand herüberzurufen.
Und sie biß die Zähne zusammen, preßte die festgeballte Hand auf die schwerathmende Brust und duckte ihre hohe Gestalt unter die zackig herunterstarrenden Trümmer der zerstörten Wandbekleidung. Mit Donna Mercedes, die jetzt den Vorgang in seiner ganzen abscheulichen Tragweite verstand, durchschritt sie den Gang, der sich wie ein Schlagbaum vor die Summe von Rechtschaffenheit und unbescholtenem Leben eines drei Jahrhunderte überdauernden Geschlechts absperrend legte.
Ohne zu sprechen, hob sie den völlig bewußtlosen, mit Armen und Beinen krampfhaft zuckenden Knaben vom Boden auf und bettete ihn mit Hülfe der Anderen auf das Kanapee. Dann ging sie durch die Eßstube in die Küche. Ein erstickender Qualm schlug ihr entgegen; es roch brandig , und im Suppentopf brodelte gurgelnd der letzte Bouillonrest, der nicht mehr über den Rand zu schäumen vermochte.
So schmerzgefangen ihre Seele auch war, so grauenhaft sie auch das Gefühl überwältigte, als sei ihr heute das Herz in der Brust umgewendet – die stereotype, pflichtgetreue Thätigkeit eines ganzen Lebens ließ sie mechanisch nach den Fensterflügeln greifen und sie öffnen; sie riß den Topf vom Feuer und den brennenden Braten aus der Röhre, um Beides auf den steinernen Tisch zu stellen – dann ging sie hinaus und rief einer der erschrockenen, noch am Mauerpförtchen schwatzenden Mägde zu, nach dem Hausarzt zu laufen.
Inzwischen stand Donna Mercedes neben Veit. Er lag einen Augenblick still, aber unter den halbgeschlossenen Lidern sah man nur das Weiße des Auges, und von Zeit zu Zeit knirschte er mit den Zähnen. Mercedes wischte ihm den Schaum vom Munde, tauchte ihr Taschentuch in ein auf dem Tische stehendes Glas Wasser und legte ihm den kühlen Umschlag auf den Kopf.
Die schlanke, schneeweiße Frauengestalt hob sich seltsam von den Wänden der urdeutschen Bürgerstube, und sie selbst sah sich fremd und staunend um, als sei sie unversehens aus blauen Lüften in düstere, unterirdische Regionen gefallen.
In modernen, luftigen Plantagenhäusern mit üppig heiteren Wandmalereien und weißen, grünumrankten Marmorperistyls war sie groß geworden, und auf deutschem Boden hatte sie, nach Verlassen der eleganten Salons und Cabinen auf dem Dampfschiff, der Schillingshof aufgenommen. Noch nie war ihr Fuß über so uralten Bretterboden gegangen; noch nie hatte sie ein solches Ofenungethüm gesehen, wie es dort in der Ecke dräute. An dem mächtigen Bogenfenster, vor dessen unteren Scheiben nur ein Paar grüne, ausgeblichene Wollgardinen in Ringen liefen, der wunderlichen Holzgallerie mit den geschnitzten Heiligenbildern, den schweren Thüren in den klaftertiefen Wölbungen schlich der Geist vergangener Jahrhunderte hin, und so peinlich und unheimlich auch die Situation war, in welcher sich Mercedes augenblicklich befand, es wurde ihr doch so traumhaft zu Sinne, als lebe und athme sie in der Zeit, aus welcher die deutschen Sagen und Märchen erblüht sind.
Die Majorin kam wieder herein. Sie bog sich forschend über den Knaben und horchte auf seine Athemzüge; dabei sah sie empor zu dem alten Mann, unter welchem der jüngste Sproß seines Hauses, ein markloser Schößling, mit einer der Familie fremden, unheilvollen Krankheit behaftet lag. Und den Blick starr auf das Bild geheftet, als sei sie nur so fähig zu sprechen, sagte sie kurz zu Hannchen:
„Werden Sie von dem soeben Erlebten für Ihre Zwecke Gebrauch machen?“
Die Augen des Mädchens glühten auf wie im Fieber.
„Ganz gewiß werde ich das, Frau Majorin,“ erklärte sie unumwunden und streckte energisch die Hand aus, als lege sie Beschlag auf das unselige Geheimniß. „Ich wäre nicht werth, daß mich die Sonne bescheint, wenn ich schwiege. Und wenn Sie mir Ihr ganzes Vermögen schenken wollten, um mein Schweigen zu erkaufen, ich nähme es nicht. Ich gehe freudig von Haus zu Haus betteln, wenn ich nur sagen darf: Mein lieber, lieber Vater
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_594.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)