Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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Natur abgelauscht erscheinen und vielfach in Gebrauch geblieben sind, wie z. B. das Wort Lurche für die Salamander, Molche und Tritonen.
Auch finden sich unter den allgemeinen Bemerkungen durchaus geistvolle Vorahnungen des später Erforschten, so z. B. Oken’s Urschleimtheorie, die er mit den Worten vortrug: „Alles Organische ist aus Schleim hervorgegangen, ist nichts als verschieden gestalteter Schleim. Dieser Urschleim ist im Meere im Verfolge der Planetenentwickelung aus anorganischer Materie entstanden.“ Lassen wir den letzten, noch heute von einer großen Anzahl von Naturforschern vertheidigten Satz auf sich beruhen, so haben wir in dem ersten eine Umschreibung der heute allgemein angenommenen Protoplasmatheorie, die als die eigentliche lebende Materie des Thier- und Pflanzenkörpers, gleichsam als dessen „Seele“, jenen eiweißartigen Schleim betrachtet, der oftmals (auch vorübergehend bei höheren Wesen) den gesammten Organismus vorstellt und dessen verschiedene Hüllen und Kleider erst seine innerliche Mannigfaltigkeit dem Blicke offenbaren. Aus diesem Urschleim ließ er Bläschen sich bilden, die er Mile nannte und aus deren Zusammenhäufung er alle zusammengesetzten Lebewesen hervorgegangen betrachtete, wiederum eine geistreiche Vorahnung des wahren Sachverhalts, den Schleiden und Schwann erst mehrere Jahrzehnte später in ihrer Zellentheorie darlegten.
Auch verdankt das Studium der Entwickelungsgeschichte, von der ja die moderne Morphologie (Gestaltenlehre) ihren Ursprung nahm, seit den Tagen Wolff’s ihren Hauptanstoß einer Arbeit Oken’s über die Entwickelungsgeschichte des Darmcanals (1806), an welche sich später die epochemachenden Arbeiten Pander’s und Bär’s lehnten. Und sieht man endlich von der phantastischen Einrahmung der Oken’schen naturgeschichtlichen Werke ab, so findet man einen Kern von umfassendem, gediegenem Wissen in ihnen, und seine „Naturgeschichte für alle Stände“ ist noch heute eine Schatzkammer, in welcher mancher weidlich auf Oken schimpfende Tagesschriftsteller seine Taschen gefüllt hat.
Es besteht heute keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß die „philosophische Behandlung“ der Naturgeschichte in dem Umfange, wie man sie damals für angemessen hielt, eine Ueberschätzung des menschlichen Scharfsinnes war, die mit einer Niederlage endigen mußte, aber der Beifall und die bedeutende Nachfolge, die Oken bei vielen angesehenen Forschern seiner Zeit fand, läßt viele seiner Extravaganzen in einem milderen Lichte erscheinen. Diejenigen Naturforscher unserer Zeit aber, welche das Wort „Naturphilosoph“ nur noch als Schimpfwort in den Mund nehmen und, auf jene Niederlage der Naturforschung hinweisend, vor jeder Verallgemeinerung und Hypothesenanleihe auf naturwissenschaftlichem Gebiete warnen, sie vergessen eben, daß auf keinem andern Wege ein Fortschritt überhaupt möglich ist, und daß ein Lamarck, Blainville, Geoffroy Saint-Hilaire, von Bär, Schleiden, Alexander Braun, Darwin und Häckel auf derselben Straße, nur etwas vorsichtiger vorwärts gehend, der Naturwissenschaft zu der weltbewegenden Stellung verholfen haben, auf der wir sie heute erblicken.
Oken selbst hat durch seine im Jahre 1816 gegründete und bis zum Jahre 1849 fortgeführte Zeitschrift „Isis“ nicht unerheblich dazu beigetragen, diese hervorragende Stellung vorzubereiten. Die bedeutendsten Naturforscher betheiligten sich durch Beiträge, und sogar Cuvier, das Ideal der gegnerischen Partei, finden wir unter den Bewunderern ihres Leiters. Andererseits machte die „Isis“ durch ihre freimüthige Kritik der Universitäten und ihrer verrotteten Zustände, des Schulunterrichts und anderer öffentlicher Angelegenheiten bald ihren Herausgeber mißliebig; die Zeit der Demagogenriecherei kam, und die sonst ihrer Liberalität wegen mit Recht berühmte weimarische Regierung mußte Oken – wie es heißt, „auf fremdstaatliches Drängen“ – seiner Professur entsetzen. Er wurde das erste Opfer der „freien Wissenschaft und Lehre“ jener Zeit. Seine Bemühungen, in Berlin oder an anderen Universitäten eine Lehrstelle zu erhalten, scheiterten am Einspruche einzelner Vertreter der „strengen“ Wissenschaft, wie wir ja ähnliche Dinge oft erlebt haben. Sich nun ganz der Förderung seiner Zeitschrift hingebend, lebte er noch mehrere Jahre in Jena und gründete von da aus das Institut der jährlichen Wanderversammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte, das in allen Culturländern Nachahmung gefunden und sich segensreich in dem Sinne ihres Stifters bewährt hat, um allgemeine Fragen hier zum Austrag zu bringen und der Naturforschung eine Art Selbstvertretung zu geben. Wie ein Hohn auf den freisinnigen Geist des Stifters mußte es freilich erscheinen, daß gerade auf dem fünfzigjährigen Stiftungstage dieser Versammlung ein Angriff auf die Freiheit der Lehre improvisirt wurde.
Oken war und blieb ein Märtyrer der freien Lehre und Meinungsäußerung. Im Jahre 1827 als Lehrer der Physiologie und Entwickelungsgeschichte nach München berufen, wurde er auch hier – diesmal, wie man sagt, von den Jesuiten – vertrieben und fand erst Ruhe in der freien Schweiz, wohin er 1832 als Lehrer an der neueröffneten Universität Zürich berufen wurde und woselbst er nach langer segensreicher Wirksamkeit am 11. August 1851 verstorben ist.
Oken war wohl in seiner Jugend etwas kraftgenialisch und hochfahrend gewesen; in seinen späteren Jahren hatte sich der wildgährende Most zu einem milden Geiste abgeklärt, und die jüngere Generation der deutschen Naturforscher blickte zu ihm wie zu einem Vater empor. Diese allgemeine Verehrung seiner unmittelbaren und mittelbaren Schüler bewährte sich trotz der Mißbilligung der „Strengen“ glänzend, als gleich nach seinem Tode die Aufstellung eines Ehrendenkmals in Anregung gebracht wurde. Im Handumdrehen war noch in demselben Herbste die zur Herstellung einer Kolossalbüste von Drake’s Meisterhand erforderliche Summe gezeichnet, sodaß die Naturforscherversammlung von 1857 auf dem Fürstengrabe in Jena die Enthüllung vornehmen konnte. Man darf annehmen, daß auch die diesjährige Naturforscherversammlung dem Andenken ihres Meisters eine bedeutsame Feier widmen wird, denn seine Irrthümer sind vergessen, sein Geist aber ist heute lebendiger als je.
Wer das ziemlich weit in das Kaspische Meer hineinragende Wolgadelta mit seinen 10 bis 12 größeren und unendlich vielen kleinen Mündungsarmen bei Astrachan hinter sich läßt, um eine Fahrt flußaufwärts zu unternehmen, wird besondere landschaftliche Schönheiten kaum zu verzeichnen haben. Zwar weisen die Inselniederungen zu gewissen Jahreszeiten Bilder üppigster Vegetation auf – aber dieselbe ist niedrig und einförmig; nur in geringer Zahl bieten Baumgruppen dem Blick einen Anhaltspunkt, und hat man nach etwa dreistündiger Dampfschifffahrt den Punkt erreicht, wo der mächtige Strom sich zuerst in zwei große Mündungsäste gabelt, so wirkt das ewig sich gleichbleibende Bild der flachen sandigen Ufer, wirkt selbst die Unterbrechung durch die zahlreichen, langgestreckten, niedrig bewaldeten Flußinseln in hohem Grade ermüdend. Zur rechten Hand – also auf dem östlichen Ufer – haben wir die bis zum Uralfluß sich hinstreckende innere Kirgisensteppe, links treten die Kalmückensteppen mit ihren fliegenden Dörfern bis an die Ufer des Flusses heran. Erst nach zehn- bis elfstündiger Fahrt beginnt am westlichen Ufer eine Erhebung, während das östliche vollkommen flach bleibt. In ungleichen Bogen erstreckt sich bis auf unabsehbare Entfernung eine Uferbank von 30 bis 60 Fuß Höhe; vor ihr ausgebreitet der vom Fluß bespülte Vorstrand, auf dem die an das Land gezogenen
- ↑ Fast scheint es einer Entschuldigung zu bedürfen, daß wir, ein unsern Lesern gegebenes Versprechen erfüllend, mit diesem Schlußartikel über die Pest in den Wolgadistricten (October 1878 bis Januar 1879) noch einmal an einen Gegenstand herantreten, der nicht mehr im Vordergrund des Tagesinteresses steht. Da aber die internationale Commission zur Untersuchung der Pestgegenden erst kürzlich die Resultate ihrer Forschungen endgültig gesichtet und geordnet hat, so war die Veröffentlichung dieses sich durchaus auf authentische Berichte stützenden Schlußartikels nicht früher thunlich.
Die Redaction.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_520.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)