Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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freche Spottblick der Unholde sollte ihr liebstes Kind, die Wonne ihrer Augen, die süße letzte Blume eines sterbenden Geschlechtes nicht entweihen, bevor der Tod kam.
„Puh, von dem Bilde könnte man schreckhaft träumen!“ rief Lucile nach einer momentan eingetretenen tiefen Stille vom Tisch herüber – ihre helle Stimme klang unangenehm aufschreckend in den Zauber hinein, den ein künstlerischer Gedanke dämonisch packend hier ausströmte. „Ich habe mich schon vorhin deshalb aus dem Staube gemacht und die Albums, die ich durchblättern wollte, eines nach dem andern, lieber in’s Glashaus geschleppt. Es ist ein furchtbares Leben in dem Bilde – grauenhaft, sag’ ich Dir. Und mit dem ‚Fischblut’ des Malers ist’s nichts, Dame Mercedes – Da irrst Du Dich gründlich, und –“
„Der Mann hat sich verkauft,“ schnitt die junge Dame verächtlich und achselzuckend die Beweisführung ab und wandte sich von der Staffelei weg. Sie schlug einen der alten Folianten auf, die auf Tischen und Stühlen umherlagen, und sah hinein, aber nur mechanisch, nur für einen Moment; dann hob sie den Blick wieder von den plumpen Holzschnitten auf den modrigen Blattseiten – er irrte träumerisch über die Gegenstände hin, um nach dem Bilde auf der Staffelei zurückzukehren, und blieb plötzlich an der Gallerie hängen, von der die Wendeltreppe direct in das Atelier hinabführte – dort oben stand der Maler selbst; noch waren die Thürvorhänge, hinter welchen er hervorgetreten sein mußte, in wallender Bewegung; er hatte wohl eben erst den Fuß auf die Gallerie gesetzt, und doch sah Mercedes sofort an seinem Gesichtsausdruck, daß er ihre harten Bemerkungen gehört hatte –
„Mit der Bettelei wäre ja schon fertig zu werden, wenn nur das Publicum von seinem planlosen Almosengeben ablassen wollte“ – so lautet die stete Klage der Polizeibeamten wie auch aller Einsichtigen, die sich mit dem Armenunterstützungswesen befaßt und ernsthaft darüber nachgedacht haben. In jedem wohlgeordneten Staate ist der Bettel gesetzlich verboten; unterstützen wir ihn, so sind wir zu einer gesetzwidrigen Handlung behülflich. Anderseits findet derjenige, welcher die Heilsamkeit, ja die Nothwendigkeit dieses Verbots nicht begreift, dasselbe hart, schneidig, unchristlich, und widerstrebt ihm, selbst wenn, wie es z. B. in Sachsen im vorigen Jahrhundert vorgekommen, sogar das Almosengeben unter Strafe gestellt ist. Es gilt sonach, die Ueberzeugung von der Gemeinschädlichkeit des unvorsichtigen Beschenkens auszubreiten, namentlich auch unter den Frauen. Ist diese Ueberzeugung erst einmal erworben, so wird es auch gelingen, uns von jener üblen Gewohnheit zu lösen, so sehr sie auch von der höchsten Tugend, der Menschenliebe, eingegeben scheint. Wir sind in der Lage von Eltern, die einem kranken Kinde ein scheinbares Labsal versagen, nach dem es schmachtet, wenn der verständige Arzt davor warnt. –
Worin besteht denn aber nun diese Schädlichkeit?
Die nachfolgenden Zeilen wollen versuchen, die Frage zu beantworten, verzichten jedoch darauf, diejenigen zu bekehren, welche blindlings an Straßen- und Hausbettler austheilen, weil sie „keine Zeit haben“ oder keine Mittel, die Würdigkeit der Bittsteller zu prüfen oder prüfen zu lassen. Sie verzichten ferner darauf, die zu gewinnen, welche aus Gedankenlosigkeit, oder um vor Anderen nicht geizig oder gar arm zu scheinen, oder auch aus Furcht vor den Grobheiten oder der Rache abgewiesener Bettler Geld auszustreuen. Nur unter Jenen möchten sie um freundliches Gehör werben, die aus vollem Herzensdrang spenden, in der aufrichtigen Meinung, pflichtmäßig zu handeln, und die ein sittliches oder religiöses Aergerniß empfinden, wenn sie Abmahnungen begegnen. Gerade hier erhebt sich die Hauptfestung des Pauperismus, welche zu belagern und zu überwältigen unter die großen Aufgaben unserer Gegenwart gehört. Weder die wirthschaftlichen Sünden der Gründerzeit, noch die letzten geschäftlichen Mißjahre mit ihrem traurigen Gefolge, noch endlich die social-demagogische Wühlerei hätten das Uebel so hoch steigern können, wie es, neben dem Mangel an positiver, zweckdienlich organisirter außerpolizeilicher Armenpflege, die kurzsichtige Almosenschleuderei gethan hat und täglich thut. Darum sei es vergönnt, an Alle, die für die Leiden ihrer Nebenmenschen ein Herz haben und die es zu dessen Bethätigung drängt, die Bitte zu richten, zuvörderst die nachstehenden Erörterungen – sie vermeiden absichtlich, tiefer in den Gegenstand einzugehen, um die Aufmerksamkeit rege zu erhalten – unbefangen prüfen und dem Ergebniß gemäß handeln zu wollen.
Weder die Belästigung des Publicums durch Bettler, noch die auf Gewohnheitsbettler verschwendeten und dadurch den wahrhaft Nothleidenden entzogenen bedeckenden Geldsummen stehen im Vordergrunde der Erwägungen, sondern Folgendes, worauf nicht genug Nachdruck gelegt werden kann: Je ungünstiger die Zeitverhältnisse, um so größer die Zahl der Einzelnen, welche sich an der Schwelle des Elends fühlen. Alles ist nun aber daran gelegen, diese Bedrängten, Gefährdeten vom ersten Griffe nach dem Bettelstabe abzuhalten. Die Scheu, Geschenke zu erbitten oder nur anzunehmen, ist eine edle, zarte Pflanze, die um so leichter verkümmert, je mehr das Geben und Empfangen von Almosen in die Oeffentlichkeit tritt, je müheloser diese erlangt werden, je reichlicher sie fließen. Versetzen wir uns nur in die Lage von Arbeitern, deren Einnahmen trotz allen Fleißes und aller Sparsamkeit karger und karger werden, so begreifen wir sofort die schwere Versuchung, welche jenen der Anblick einer Rotte von Tagedieben bereitet, die wohlgemuth in Straßen und Häusern umherstrolchen, nur ihre Mützen entgegenzuhalten und unter kläglichen, heuchlerischen Mienen ihr Sprüchlein herzusagen brauchen, um einen Regen von kleiner Münze sich ergießen zu sehen. Anfangs hält bei den Besseren unter der karglebenden Arbeiterclasse das Schamgefühl Stand, seine Stimme wird aber im Gedränge der Noth schwächer und schwächer, bis sie verstummt und – der verhängnißvolle erste Schritt gethan ist. Mit dem Ehrgefühl erlischt dann bald auch die Lust und schließlich die Fähigkeit zur Arbeit. Müßiggang ist nun die Losung geworden; die Bettlermasse ballt sich lawinenartig, und die Zuchthausthüren sind weit aufgethan.
Jeder von uns muß sich sagen: rasches, unbedachtes Spenden ist zwar alter Brauch, und ich kann hundert Andere nicht daran hindern, das rechtfertigt mich aber nicht, wenn ich, wider besseres Wissen, ihm fröhne. Denn nichts bürgt mir, daß ich nicht mein Theil damit beitrage, Menschen zu Taugenichtsen, Trunkenbolden und für das Gefängniß reif zu machen, abgesehen davon, daß mein schlechtes Beispiel Andere ermuntert, in ihrer Gewohnheit zu verharren. „Wer rasch giebt, giebt doppelt“, ist ein altes gutes Wort. Daß damit jedoch nicht ein unüberlegtes Geben empfohlen sein kann, liegt auf der Hand. Aehnlich verhält es sich mit gewissen Bibelstellen, welche zu unermüdlicher, selbstloser Mildthätigkeit nachdrücklich auffordern und gleichzeitig davor warnen, solches Thun hoch anzuschlagen oder damit vor den Leuten zu prunken. Wer sich nicht an todte Buchstaben, sondern an den lebendigen Geist hält, kann unmöglich jene Bibelworte so auslegen, als ob Jeder seine Habe dem ersten besten Armen schenken solle, der consequenter Weise alsdann das Nämliche thun müßte. Durch sorgfältige Untersuchungen an verschiedenen Orten ist ferner zuverlässig festgestellt, daß unter der Bettlermasse nur ein kleiner Bruchtheil unterstützungswürdig ist. Kann es da das Richtige sein, wenn wir, um diese Wenigen zu treffen, unsere für Unterstützungszwecke verwendbaren Mittel blindlings unter die ganze Masse vertheilen, das heißt zersplittern, großentheils vergeuden und Unheil damit anrichten, während sie doch mit Sicherheit dort anzubringen wären, wo sie nur nützen, keinenfalls schaden können?
Was nun aber thun? Soll die Privatwohlthätigkeit ganz aufhören? Nein, denn die polizeiliche reicht, was die Mittel betrifft, nicht entfernt aus. Soll ich mich begnügen, Alles, was ich freiwillig beisteuern kann, der öffentlichen Armencasse abzuliefern, Beamten, dem „grünen Tische“, das Weitere überlassend, und direct keinem Dürftigen etwas reichen? Soll ich mich auf diese Weise der Gefahr aussetzen, innerlich zu verhärten, neben dem Gefühle der Mitfreude auch das des Mitleids allmählich einzubüßen? Im Gegentheil – wir weisen der unmittelbaren Privatwohlthätigkeit den größeren, schwierigeren, schöneren Theil der Aufgabe zu: sie beginnt da,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_398.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)