Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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Hintergebäude empor und lief über die Dächer und auf den schmalen Kanten der Firste hin. Keine Leiter war ihm zu steil und weitsprossig, kein Winkel zu dunkel – er kroch durch die Dachluken auf die Kornspeicher und Heuböden, spürte wie ein Iltis den verschleppten Hühnernestern nach und schlürfte die Eier aus. Er wußte, daß sich Alles vor ihm fürchtete, denn er stand auch an Intelligenz weit über seinem Alter, und das machte ihn zu einer wahren Geißel – mit seinen Streichen hielt er wie ein rumorendes Teufelchen das ganze Haus in Athem.
Von Dr. Gustav Dannehl.
1. Das Verhältniß der Nationalitäten in Belgien.
Es giebt wenig Parteiströmungen und Culturbestrebungen im Auslande, die so sehr unsere Aufmerksamkeit und unsere Theilnahme verdienen, wie die vlamische Bewegung. Aber obwohl diese Bewegung schon ein Menschenalter hindurch einzig und allein die Wiederbelebung und Erhaltung eines Stückes urdeutschen Volksthums bezweckt, das von französischer Sprache und Sitte schon ganz überwuchert war und das noch immer nicht völlig der Gefahr überhoben ist, in fremdländischem Wesen unterzugehen, so kann man doch behaupten, daß diese deutschfreundliche Strömung in Belgien einem großen Theile des deutschen Volkes kaum dem Namen und dem Schauplatze nach bekannt ist.
Daß Belgien, diese so sonderbare und doch in mancher Hinsicht historisch gerechtfertigte Staatenbildung, ein zweisprachiges, von romanischen Wallonen und germanischen Vlamingen bewohntes Land ist, weiß jedes Kind, daß aber unsere vlamischen Stammesbrüder die überwiegende Majorität bilden, ahnen die wenigsten.
Die meisten deutschen Reisenden, welche auf dem Wege nach England oder Frankreich durch Belgien fahren oder die berühmten Seebäder Ostende und Blankenberghe besuchen, gewinnen, wenn sie nicht eigens, um Land und Leute zu studiren, von den Hauptlinien der belgischen Staatsbahn Abstecher machen, leicht die Vorstellung, daß sie sich durchaus auf französischem Sprachgebiete bewegen. Selbst ein mehrtägiges Verweilen in den von Kunstdenkmälern früherer Zeit strotzenden Städten Gent, Brügge, Antwerpen etc. vermag diese grundfalsche Vorstellung schwerlich zu beseitigen. Und das ist ganz natürlich. Wenn man mit den Eilzügen über Verviers und Lüttich erst ein Stück durch wallonisches Gebiet und dann von Löwen ab durch den langen schmalen Landstrich fährt, der den nördlichen, germanischen Theil Belgiens ausmacht, so vernimmt man aus dem Munde des Schaffners, der natürlich, wie alle Angestellte des Landes, französisch spricht, lauter französirte Stationnamen, wie Tirlemont, Louvain, Bruxelles, Alost, Gand, Bruges etc., hinter denen sich die grunddeutschen Städtenamen Thienen, Löwen, Brucksel (das heißt kleine Brücke), Aelst, Gent, Brügge verbergen. Die vornehmen Classen der Vlamingen, mit denen der Reisende auf dieser Strecke in der ersten und zweiten Wagenclasse meist zusammenkommt (die dritte steht etwa unserer vierten gleich), bedienen sich in der Oeffentlichkeit fast ohne Ausnahme der französischen Sprache, während das Vlamische im gemütlichen Verkehr der höheren Stände wohl noch in ähnlicher Weise auftritt, wie das demselben verwandte Plattdeutsch in städtischen Kreisen Norddeutschlands; im Uebrigen ist das Vlamische die Sprache des Landvolks, des gemeinen Mannes und – der Kinder, und zwar auch der vornehmeren, bis sie durch die höhere Schule verwälscht werden. Bei den durch Belgien reisenden Deutschen würde man auf der Tour wie in den Hôtels mit Recht die Kenntniß des Vlamischen nicht voraussetzen, und so erklärt sich unsere obige Behauptung im Betreff der falschen Ansicht von den Sprachverhältnissen Belgiens. Und doch hat das Antwerpener Land, haben Ost- und Westflandern und ein Theil von Brabant, ja selbst ein größerer Theil des französischen Flandern bis vor die Thore von St. Omer manchen Zug echten, unverfälschten und unverwälschten Deutschthums in Sprache und Kunst, in Sitten und Gebräuchen treuer und ursprünglicher bewahrt, als mancher deutsche Gau selbst.
Wenn die vor Kurzem vom Reichskanzleramt für das ganze deutsche Reich angeordneten statistischen Erhebungen über die Farbe der Augen, der Haare und der Haut bei den Einwohnen sich auch auf jenen vormalig burgundischen Kreis erstreckt hätten, so würde man sicher einen Typus gefunden haben, der reiner germanisch ist, als der unsere. Diese kräftigen Männergestalten mit dem hellblonden Haar und den lichtblauen Augen, die so sanft blicken und auf deren Grund doch das Feuer des furor germanicus glüht, wenn es den Kampf für die Rechte und Freiheiten gilt, diese zarten, züchtigen Frauen mit den runden Madonnengesichtern, diese reizenden Engelsköpfchen, die hinter den Blumenfenstern hervorlauschen, sind dieselben, welche den Rubens und van Eyck, den Memling und Quentin Messis zum Modell gedient haben. Volkslieder von dem Klange der von Uhland und Hoffmann von Fallersleben gesammelten Kinderlieder und Volksreime, noch heute jedem Niederdeutschen verständlich, ertönen hier noch fast in denselben Lauten und Wendungen auf den Gassen und Märkten vor den altehrwürdigen Giebelhäusern, wie sie erklungen sind, als Karl der Fünfte in seiner Vaterstadt Gent glänzenden Hof hielt, von einer reizenden Patriciertochter in zarten Liebesbanden festgehalten, oder als Maximilian-Teuerdank um die schöne Maria von Burgund freite und von den reichen Brüggern in der Craenenburg gefangen gehalten wurde, weil er ihre Gerechtsame nicht respectiren wollte.
Die malerische, nonnenartige Tracht der Bürger- und Bauerfrauen von Brügge und seiner Umgebung hat sich in den letzten dreihundert Jahren kaum merklich verändert, wie der Vergleich mit den herrlichen Portraits in den Kirchen und Gallerien lehrt. In den Tooneelliefhebber-Gesellschaften (Liebhabertheatern), welche über das ganze Land verbreitet sind und die hier in ihrem demonstrativen Gegensatz zu der importirten französischen Komödie eine wahrhaft nationale Bedeutung gewonnen haben, leben die alten Rhetoreikammern noch fort, während die diesen entsprechenden deutschen Institutionen des Meistergesanges und der Dichterorden längst eingegangen sind. Manche dieser Vereinigungen führen ihre Stiftung bis in’s dreizehnte, vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert zurück und erfreuten sich bis in die napoleonische Zeit namhafter Privilegien.
Das Innere der Häuser birgt noch einen Schatz uralten Hausrathes, solide Erzeugnisse der kerndeutschen Industrie, die in vergangenen Jahrhunderten hier in höchster Blüthe gestanden hat. So erinnert Alles an die germanische Verwandtschaft. Wer daher nur einige Schritte von der erwähnten Schienenstraße in das Innere machen wollte, der würde in dem ersten besten jener reinlichen und behäbigen Dörfer des grünen Tieflandes von Flandern auf seine französische Anrede die Antwort: „Kan niet verstaen“ bekommen, der würde eine Sprache vernehmen, so reindeutsch, so kräftig und treuherzig, wie die, in welcher die alten plattdeutschen Chroniken von Köln, Lübeck oder Magdeburg geschrieben sind.
Während sich nämlich in Norddeutschland die aus der Sprache der sächsischen Kanzlei hervorgegangene und namentlich durch Luther’s reformatorische und literarische Thätigkeit immer mehr in Aufnahme gekommene hochdeutsche Schriftsprache neben der niederdeutschen Volkssprache allmählich vollständig Bahn brach und die alte Stammessprache fast zu einem Dialect herabdrückte, hat sich das Niederländische in Folge der fast gleichzeitigen Loslösung seines Gebietes vom Reich auch als Schriftsprache behauptet und, ohne sich wesentlich zu verändern, es zu einer verhältnißmäßig nicht unbedeutenden nordniederländischen (holländischen), sowie zu einer neueren jungvlamischen, das ist belgisch-niederdeutschen Literatur gebracht. Der Grundton und wesentliche Gehalt dieser letzteren ist die patriotische Verherrlichung der großen Vergangenheit Flanderns und das Streben nach Wahrung des germanischen Volksthums durch unausgesetzten Kampf gegen die Französirung, welche dem Deutschthum jenes Gaues lange den Untergang gedroht hat. Die Vertreter dieser jungvlamischen Literatur sind zugleich die Hauptträger der vlamischen Bewegung gewesen; der Dichter und Sprachforscher Jan Frans Willems (geboren 1793 zu Bouhout bei Antwerpen, gestorben 1846 zu
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_334.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)