Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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nahm man, was wahrscheinlicher klang, an, daß er der Sonne noch etwas näher stehe, so mußte er noch größer sein. Nun konnte sich Leverrier kaum vorstellen, daß die Astronomen bei allen seitherigen totalen Sonnenfinsternissen einen so ansehnlichen Planeten regelmäßig übersehen haben sollten, und er neigte daher zu der Annahme, es möge sich nicht um einen einzelnen großen Planeten, sondern um mehrere, vielleicht viel kleinere Planeten in jenem inneren Raume handeln, die bei ihrer Kleinheit leichter zu übersehen wären, aber in ihrer Zusammenwirkung die vorhandene Störung ebensowohl hervorbringen könnten, wie ein einzelner größerer.
Kaum hatte Leverrier seine Rechnungen (September 1859) der Pariser Akademie der Wissenschaften vorgelegt, als sich auch schon mehrere Beobachter meldeten, die den fraglichen Planeten bereits gesehen haben wollten. Insbesondere sprach man davon, daß ein in einer kleinen, unweit Chateaudun belegenen Landstadt, Orgères, wohnhafter Arzt, Namens Lescarbault, einen Durchgang des betreffenden Planeten am 26. März 1859 genau beobachtet haben wolle. Leverrier legte anfangs kein Gewicht auf diese bei ähnlichen Gelegenheiten regelmäßig auftretenden Bewerbungen, aber schließlich wurden die Angaben so bestimmt, daß der große Astronom „ein Exempel zu statuiren“ beschloß und zu strengem Verhör nebst Haussuchung am 30. December 1859 bei dem kecken Planetenentdecker eintraf.
Sehr humoristische Beschreibungen dieses Besuches drangen damals in die Oeffentlichkeit. Der Director der kaiserlichen Sternwarte, entschlossen, dem Gerede ein Ende zu machen und einen Betrüger zu entlarven, sei, so erzählte man, wie ein Löwe über das unschuldige Lamm hergefallen, welches er einer derartigen Beobachtung für schlechterdings unfähig hielt, aber das Lamm, welches einsah, daß es bei der ersten ungeschickten Bewegung verloren wäre, antwortete herzhaft auf alle vorgelegten Fragen und gelangte dahin, den großen Astronomen zu überzeugen, daß es nicht nur im Stande sei, mit seinen einfachen Instrumenten eine solche genaue Beobachtung zu machen, sondern dieselbe auch wirklich gemacht habe. Leider hatte er den winzigen schwarzen Punkt nicht gleich in dem Augenblicke bemerkt, wo er den Rand der Sonnenscheibe zuerst passirt hatte, und obendrein hatte ihn während des Vorübergangs ein Patient consultirt, aber das Verlassen des Sonnenrandes hatte er genau beobachtet und auch die Sehne des Bogens der Sonnenscheibe, welche der Planet durchlaufen hatte, bestimmt. Leverrier legte die Ergebnisse dieser Beobachtung der Pariser Akademie der Wissenschaften in einer ihrer ersten Sitzungen im folgenden Jahre vor; er hatte daraus einen Planeten abgeleitet, der sich in einer Entfernung von etwa drei Millionen Meilen und in einem Zeitraume von neunzehn und dreiviertel Tagen um die Sonne bewege. Die allgemeine Stimme legte dem nicht officiell Getauften den Namen Vulcan bei, einerseits, weil er wie der Gott des Feuers unmittelbar um den Gluthherd unserer Welt kreist, dann aber auch im ausgesprochenen Gegensatze zu der Gottheit der Gewässer, die bei dem äußersten Planeten Pathe gestanden. Indessen glückte eine Wiederauffindung nicht, wahrscheinlich weil die auf so ungewissen Bahnelementen begründete Rechnung falsch gewesen war, und der Planet Vulcan gerieth in Vergessenheit und Mißcredit.
In der Zwischenzeit hatte ein Schüler Leverrier’s, der Züricher Astronom Professor R. Wolf, auf einem andern Wege neue Zeugnisse für das Vorhandensein eines oder mehrerer innersten Planeten gewonnen. Da dieselben nämlich offenbar wegen ihrer engern Bahn und kürzern Umlaufszeit den irdischen Astronomen viel häufiger das Schauspiel eines Durchgangs bieten müßten, als Mercur und Venus, so war es bei dem Eifer, mit welchem die Sonnenscheibe in unserm Jahrhundert von vielen Beobachtern gemustert wird, unwahrscheinlich, daß etwa vorhandene innere Planeten nicht auch öfter gesehen worden sein sollten. Er sah also die vorhandenen Aufzeichnungen über kleine Sonnenflecke durch, von welchen beobachtet worden war, daß sie schneller als die übrigen über die Sonnenscheibe dahinziehen. Die eigentlichen Sonnenflecke, welche man für Wolken oder andere Oberflächenbildungen der Sonnenhülle ansieht, brauchen von ihrem ersten Auftauchen an dem einen Rande der Sonne bis zum Erreichen des andern, wenn sie sich so lange erhalten, gewöhnlich die Zeit einer halben Sonnenumdrehung, also gegen dreizehn Tage, während ein Planet, selbst wenn er den weitesten Weg durch das Centrum der Scheibe nimmt, dazu nur den vierzigsten oder fünfzigsten Theil dieser Zeit gebraucht. Wirklich fand nun auch Professor Wolf Angaben über fünfzehn derartige kleine und durch ihre Bewegungsschnelligkeit verdächtige Flecken, von denen sich mehrere auf einen kleinen Planeten von achtunddreißig und einen halben Tag Umlaufszeit beziehen ließen.
Eine erste Probe der neuen Mercur-Theorie, die sich auf die Annahme eines oder mehrerer innerster Planeten stützte, lieferte bereits der nächste Mercur-Durchgang (12. November 1861). Er folgte ziemlich genau der neuen Rechnung, die von der älteren um mehr als drei Minuten abwich. Auch die Beobachtung des letzten Mercur-Durchgangs (6. Mai 1878) ergab Stützpunkte für die Richtigkeit der ersteren. Ein Vergleich der Bestimmungen der Zeitpunkte, in denen der Mercur die Ränder der Sonnenscheibe berührte, mit den Angaben der amerikanischen und englischen Schiffsalmanache ergab, daß der englische der Wahrheit viel näher gekommen war. Da nun die Tafeln des amerikanischen Almanachs nach Leverrier’s alter Theorie der Mercurs-Bahn berechnet sind, die des englischen aber nach seiner den innersten Planeten berücksichtigenden neueren Theorie, so bewies auch dadurch der noch immer incognito seinen Weg fortsetzende innerste Planet seine Gegenwart.
In der That hat Leverrier bis zu seinem am September 1877 erfolgten Tode nicht aufgehört, die Astronomen zur Aufsuchung des zweiten, von ihm durch Rechnung gefundenen Planeten anzuspornen, und noch ein kurz vor seinem Tode an Airy gerichteter Brief behandelte diese Frage. So hatte er auch den nunmehrigen Entdecker J. Watson persönlich dazu aufgefordert, als dieser ihn vor viertehalb Jahren in Paris auf der Rückreise von Peking besucht hatte, wohin er im Auftrage seiner Regierung zur Beobachtung des letzten Venus-Durchgangs gegangen war. Watson hatte sich durch die Auffindung einer großen, nachher bis auf fünfzehn Häupter angewachsenen Reihe jener kleinen Planetoiden ausgezeichnet, die zwischen Mars und Jupiter kreisen und von vielen Astronomen für die Bruchstücke eines durch eine Katastrophe in Trümmer gegangenen großen Planeten gehalten werden. Der Entdecker zahlreicher, so winziger Objecte schien Leverrier der rechte Mann zu sein, den oder die innersten, möglicher Weise nicht größeren Planeten aufzufinden, die er mit seinem geistigen Auge erschaut hatte. Ebenso, wie ehemals Monate vergangen waren, ohne daß Jemand an die Aufsuchung des Neptun ging, dessen Ort er genau bezeichnet hatte, so waren Jahrzehnte vergangen, bevor man sich ernsthaft an die Entdeckung der innersten Planeten machte, und ein neidisches Schicksal versagte Leverrier diesen zweiten Triumph seiner Rechnungen zu erleben.
Watson kehrte mit dem Entschlusse heim, der erhaltenen Aufforderung Folge zu leisten, und Leverrier’s in frischem Andenken stehender Tod mag ein Motiv mehr gewesen sein, die Ausführung seines Vermächtnisses als heilige Pflicht zu betrachten. Natürlich ist eine totale Sonnenfinsterniß die einzige günstige Gelegenheit, noch näher als der Mercur um die Sonne kreisende Weltkörper zu entdecken, und so hatte man sich denn in Amerika mit Eifer dazu gerüstet und besondere, sehr genaue Sternkarten der der Sonne in jenen Minuten als Hintergrund dienenden Region des Sternhimmels zum Vergleiche entworfen.
Die kleinsten Sterne waren daselbst eingetragen, um jeden dort nicht stationirten Wanderer sogleich erkennen und in Haft nehmen zu können. Besonders günstig war die Gelegenheit nicht zu nennen, denn die vollständige Verfinsterung währte noch nicht einmal drei Minuten, und in der That haben nur wenige von den über verschiedene Stationen Nordamerikas zerstreuten Beobachtern den inneren Planeten gesehen. Vielleicht wäre er wiederum gar nicht gesehen worden, wenn der Sonnenrand auch diesmal ebenso prachtvolle Lichtphänomene wie bei den letzten totalen Verfinsterungen dargeboten hätte. Aber während sich damals Ausbrüche und Eruptionen glühender oder brennender Dämpfe bis zur Höhe von zwanzigtausend Meilen erhoben, zeigten sich diesmal nur geringe Hervorhebungen über den Sonnenrand; in der gewaltigen Thätigkeit der Verbrennungsprocesse scheint eine wahrscheinlich mit der elfjährigen Periode der Sonnenflecke im Zusammenhange stehende Ruhepause eingetreten zu sein. Die Aufmerksamkeit der Professoren Watson, Newcomb, Holder und Anderer, die sich zur speciellen Aufgabe gesetzt hatten, den Vulcan aufzufinden, wurde also nicht allzusehr durch glänzende Erscheinungen von ihrem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_643.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)