Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Also Du wenigstens glaubst noch an mich!“ sagte Raven mit einem tiefen Athemzuge.
„Ich habe nie auch nur einen Augenblick an Dir gezweifelt. Aber weshalb schweigst Du zu jener Anklage? Weshalb trittst Du ihr nicht mit voller Macht entgegen? Schon um Deiner selbst willen mußt Du sie niederwerfen.“
„Ich habe die Beschuldigung öffentlich für eine Lüge erklärt – Du siehst es, welchen Glauben mein Wort gefunden hat, und Beweise stehen mir so wenig zu Gebote, wie denen, die mich anklagen. Es gab nur Einen, welcher mich von dem Verdachte hätte reinigen können, Deinen Großvater, und den deckt längst das Grab.“
„Meinen Großvater?“ fragte Gabriele überrascht. „Er starb, als ich noch ein Kind war, aber ich hörte von meinen Eltern, daß Du sein Liebling und Vertrauter gewesen.“
Raven blickte, in düsteres Nachsinnen verloren, vor sich hin. „Er war eine durchaus ungewöhnliche Natur. Vielleicht war das der Grund, weshalb wir Beide uns stets verstanden, denn auch ich habe nicht die Alltäglichkeit zur Richtschnur meines Denkens und Handelns gemacht. Er war freilich auf den Höhen des Lebens geboren, die ich erst erklimmen mußte. Aristokrat durch und durch, besaß er doch Gerechtigkeit genug, um Begabung und Charakter anzuerkennen, auch wenn sie sich außerhalb seiner Sphäre regten, das habe vor Allen ich erfahren. Es war keine Kleinigkeit für den reichen, stolzen Grafen, für den allmächtigen Minister, die Hand seiner Tochter einem jungen bürgerlichen Beamten zuzusagen, der sich seine Zukunft erst erobern sollte. Dein Großvater wußte es freilich, daß ich sie mir erobern werde, und einem Andern meines Standes hätte er nie seine Tochter vermählt. Ihm verdanke ich alles, was ich geworden bin; er ist mir bis zu seinem Tode ein Freund und Vater gewesen, und doch wollte ich, seine Hand hätte damals nicht in mein Leben eingegriffen und mich gewaltsam auf eine andere Bahn gerissen. Sie führte nach empor zu der erträumten Höhe – aber der Preis, den ich dafür zahlen mußte, war zu hoch.“
Er schwieg und sah wieder in die duftverschleierte Ferne hinaus. Gabriele legte bittend die Hand auf seinen Arm.
„Arno, ich weiß es längst, daß irgend etwas Dunkles, Bitteres in Deinem Leben liegt, und ich weiß auch, daß es ein Unglück und keine Schuld ist. Willst Du es mir nicht enthüllen? Ich habe jetzt doch wohl ein Recht darauf.“
„Du hast es,“ sagte Raven ernst. „Du sollst es erfahren.“
Gabriele blickte in banger Erwartung zu ihm empor. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich.
„Du weißt, daß ich aus den einfachsten bürgerlichen Verhältnissen hervorgegangen bin. Der frühe Tod meiner Eltern lehrte mich, früh für mich selber einzustehen. Ich war in den Staatsdienst getreten und mußte meine Laufbahn von unten auf beginnen. In jener Zeit, wo der Sturm der Revolution durch das Land tobte und die Hauptstadt sich in offener Empörung, im Kampfe mit der Regierung befand, war ich in eine abgelegene kleine Provinzialstadt festgebannt, und das allein bewahrte mich vor der Theilnahme an jenen Bestrebungen, denen ich aus voller Ueberzeugung anhing. Schon im nächsten Jahre wollte der Zufall, daß ich nach der Residenz versetzt wurde; ich kam in nähere Berührung mit meinem Chef, der damals soeben erst das Ministerium übernommen hatte und die Reactionsperiode einzuleiten begann. Er mußte wohl entdeckt haben, daß ich mit einem anderen Maße gemessen werden durfte, als seine übrigen Beamten, denn er bevorzugte mich entschieden, und ich fühlte, daß er mich und meine Leistungen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Noch fehlte mir freilich jede Gelegenheit, mich auszuzeichnen. In der Residenz fand ich Rudolph Brunnow, meinen intimen Freund von der Universität, wieder. Noch gährte es überall, wenn man auch der Bewegung selbst Herr geworden war, und all die gewaltsam unterdrückten Elemente, die sich nicht mehr offen regen durften, fanden sich im Geheimen zusammen. Auch ich wurde durch Brunnow, der ein leidenschaftlicher Revolutionär war, in die Kreise gezogen, denen ich längst durch meine Ueberzeugung angehörte. Er stand an der Spitze einer geheimen Verbindung, deren Mitglied auch ich wurde. Wir glaubten an Ideale, Unmöglichkeiten, die in der Wirklichkeit nie eine bleibende Stätte gefunden hätten, aber wir hätten eher unser Leben hingegeben, als davon gelassen.“
Raven schwieg einen Moment lang. Die Erinnerung schien ihn tief zu erschüttern.
„Da kam die Katastrophe,“ fuhr er dann leidenschaftlicher fort, „wir wurden beargwöhnt und beobachtet, ohne daß wir es ahnten, bis der Minister selbst eingriff. Er mußte voraussetzen, daß ich irgendwie betheiligt sei, denn er ließ mich eines Tages rufen und stellte mich zur Rede, aber nicht wie einen Verbrecher, den man überführen will. Es geschah in gütiger, beinahe väterlicher Weise, und das entwaffnete mich. Ich kannte ihn damals noch zu wenig, um zu wissen, welch ein starrer, unversöhnlicher Gegner der Revolution er war; ich ließ mich, wie so Viele, durch die Mäßigung und Vorsicht täuschen, die er im Anfange zeigte. Ich ließ mich hinreißen, meine politischen Ansichten offen zu bekennen und zu vertheidigen – an dieser Stelle zu vertheidigen!
Es war eine schwere Uebereilung, und ich habe sie furchtbar büßen müssen. Zwar fiel kein Wort über das Geheimniß, das ich zu wahren hatte, und der Minister machte auch keinen Versuch, es von mir zu erfahren. Er kannte mich und wußte, daß mir weder Versprechungen noch Drohungen einen Verrath entreißen würden, aber mein leidenschaftliches Aufflammen selbst, meine unvorsichtige Parteinahme für jene Ideen zeigten dem erfahrenen Staatsmanne, wo die längst gesuchte Spur zu finden sei. Er entließ mich scheinbar wohlwollend, aber kaum hatte ich meine Wohnung wieder betreten, so wurde ich verhaftet; meine Papiere wurden mit Beschlag belegt und mir jede Möglichkeit genommen, meinen Freunden eine Nachricht zukommen zu lassen. Das nächste Opfer war Rudolph, den man als meinen Freund und Vertrauten kannte. Bei ihm fand man die Correspondenzen unserer Verbindung und damit den Schlüssel zu allem Uebrigen. Noch vier unserer Gefährten theilten unser Schicksal; der Schlag kam so unerwartet, daß Keiner sich zu retten vermochte.
Die Anklage lautete auf Hochverrath – wir mußten auf Alles gefaßt sein. Da, nach kurzer Zeit, wurde ich wieder zum Minister geführt, der mir ankündigte, daß ich meiner Haft entlassen sei. Er habe sich überzeugt, daß ich nur der Verführte, das Opfer Brunnow’s und seiner Genossen gewesen sei, und wolle das Geschehene verzeihen, sobald ich mein Ehrenwort gebe, ein- für allemal mit den revolutionären Bestrebungen zu brechen. Ich starrte meinen Chef wie betäubt an. Kannte er meine Stellung zu der Sache wirklich nicht, oder wollte er sie nicht kennen? Mein Name war allerdings nirgends genannt worden. Rudolph galt als unser Haupt, aber ein so scharfblickender Mann wie der Minister mußte wissen, daß die passive, unselbstständige Rolle eines blos Verführten meinem ganzen Charakter widersprach. Ich ahnte damals noch nicht, daß er blind sein wollte, um verzeihen zu können. Ich verweigerte entschieden das geforderte Versprechen, weil es Verrath an meiner Ueberzeugung sei, und erklärte, das Schicksal meiner Freunde theilen zu wollen.
Der Minister behielt seine unerschütterliche Ruhe und wiederholte sein Anerbieten. ‚Ich gebe Ihnen vier Wochen Bedenkzeit,‘ sagte er. ‚Ich setze zu viel Hoffnungen auf Sie und Ihre Zukunft, um Sie in diesem wüsten Demagogentreiben zu Grunde gehen zu lassen. Ihr Kopf kann dem Staate bessere Dienste leisten, als sich auf einer Festung oder im Exile mit unfruchtbaren Verschwörungsplänen abzumühen. Sie sind nicht der Erste, der einen begangenen Irrthum einsieht und später zum eifrigsten Verfechter der Sache wird, die er einst bekämpfte, und gerade der Trotz, mit dem Sie jetzt die gebotene Rettung von sich stoßen und die Umkehr verweigern, zeigt mir, daß ich die Verantwortung übernehmen darf, Ihnen wieder den Staatsdienst zu öffnen, wenn Sie wirklich umkehren. Noch hat Sie Niemand angeklagt, und es hängt von Ihnen ab, ob die Anklage überhaupt erhoben werden soll. Die wenigen Beweise, welche Sie compromitiren sind in meinen Händen und werden vernichtet, sobald ich Ihr Wort habe. In vier Wochen erwarte ich Ihre Entscheidung. Vorläufig sind Sie frei und haben die Wahl zwischen einer ehrenvollen, vielleicht glänzenden Laufbahn und dem Untergange‘ – damit entließ er mich.“
„Und Du hast die Wahl getroffen?“ fragte Gabriele.
„Ich – nein!“ entgegnete Raven bitter. „Für mich gab
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_562.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2016)