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Seite:Die Gartenlaube (1878) 550.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


zu sprechen, ihr in das Auge sah, das mit feuchtem Schimmer, aber klar und fest dem seinigen begegnete. Einige Secunden lang dauerte dieses stumme unverwandte Anschauen; dann beugte der Freiherr sich plötzlich nieder und drückte seine Lippen auf die Stirn des jungen Mädchens.

„Nein, Du nicht!“ sagte er tief aufathmend. „Ich glaube Dir.“

Seine Hand umschloß fester die ihrige. Er sah erst jetzt, daß Gabriele in voller Reisekleidung war, nur ohne Hut und Mantel, die sie bereits abgelegt hatte. Noch war er weit entfernt, die Wahrheit zu ahnen; das bewies seine nächste Frage.

„Wo ist Deine Mutter? Und was veranlaßte Euch zu dieser plötzlichen Rückkehr? Ich erwartete Euch erst in einigen Wochen.“

In dem Gesichte des jungen Mädchens stieg langsam eine tiefe Röthe auf. „Mama ist in der Residenz zurückgeblieben. Ich habe mir die Erlaubniß zu dieser Reise von ihr erzwingen müssen. Sie gab erst nach, als sie sah, daß es doch unmöglich war, mich zu halten. Ich bin nur in Begleitung unseres alten Dieners gekommen.“

Raven folgte ihren Worten in athemloser Spannung; es überkam ihn wie die Ahnung eines grenzenlosen, unaussprechlichen Glückes, aber in demselben Augenblicke trat auch wieder der alte Schatten dazwischen.

„Und Winterfeld?“ fragte er in beinahe schneidendem Tone.

Gabrielens Blick sank zu Boden, und ihre Stimme bebte in schmerzlicher Erregung.

„Ihm habe ich wehe thun müssen, bis in das innerste Herz hinein,“ antwortete sie, „aber er mußte die Wahrheit erfahren, ehe ich zu Dir ging. Georg weiß jetzt, wem meine Liebe allein gehört. Er hat mir mein Wort zurückgegeben; ich bin frei –“

Sie konnte nicht vollenden. Arno hatte sie bereits an seine Brust gepreßt; sie fühlte sich von seinen Armen umfangen, fühlte seine Lippen auf den ihrigen, und alles Andere, auch der Gedanke an Georg’s Schmerz, ging unter in der Seligkeit dieser Minute. Endlich richtete sich Raven wieder empor, aber ohne die Geliebte aus seinen Armen zu lassen.

„Und weshalb eiltest Du gerade jetzt zu mir?“ fragte er. „Du wußtest ja nicht, konntest nicht wissen, was inzwischen geschehen ist.“

Gabriele blickte unter Thränen lächelnd zu ihm auf. „Ich wußte nur, daß eine neue, schwere Gefahr Dir drohte – und da wollte ich bei Dir sein.“

Es klang so einfach und selbstverständlich dieses „da wollte ich bei Dir sein“, aber Raven verstand die ganze unendliche Hingebung, die in den wenigen Worten lag. Er blickte schweigend nieder auf das junge Wesen, das er eben noch so bitter angeklagt, für so schwankend und unselbstständig gehalten hatte und das sich jetzt so entschlossen allen Banden entriß, um an seine Seite zu eilen und mit ihm unterzugehen. Mitten durch all die Nacht, die ihn umgab, brach es wie ein strahlender Triumph, sich so geliebt zu wissen.

Der goldene Lichtstrom verschwand allmählich, als die Sonne tiefer sank, nur einzelne Strahlen suchten sich noch ihren Weg durch das Fenster, endlich erloschen auch diese und nur ein matter, röthlicher Schimmer erfüllte das Gemach, der Abglanz der Abendröthe. Arno und Gabriele achteten nicht darauf. Er hatte sie an seine Seite gezogen und sprach zu ihr, aber nicht von Gefahr oder Untergang – sie hatten beide vergessen, daß so etwas existirte, sie dachten nicht mehr daran. Zum ersten Male lag kein Schatten, kein Mißverständniß zwischen ihnen; zum ersten Male konnten und durften sie einander angehören. Vergangenheit und Zukunft versanken ihnen in diesem Bewußtsein; sie fühlten nur, daß sie sich liebten und daß sie grenzenlos glücklich waren.

„Herr Oberst Wilten,“ meldete der eintretende Diener in gewohnter förmlicher Weise.

Raven sah auf, als werde er aus einem Traume geweckt, und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Oberst Wilten?“ wiederholte er langsam. „Ja so – das hatte ich vergessen.“

Gabriele wurde aufmerksam. „Mußt Du den Oberst heute noch sprechen?“ fragte sie, wie von einer unbestimmten Ahnung ergriffen. „Deine Empfangsstunden sind ja längst vorüber.“

Der Freiherr stand auf. Der eben noch so strahlende Ausdruck seiner Züge war verschwunden.

„Ich habe ihn erwartet; es handelt sich um eine nothwendige Besprechung. – Ich lasse den Herrn Oberst bitten, mich im Salon zu erwarten. Ich bin sogleich bei ihm.“

Der Diener entfernte sich. Ich muß Dich verlassen, Gabriele; „Du weißt nicht, was es mich kostet, Dich jetzt auch nur eine Minute lang von meiner Seite zu lassen,“ sagte er gepreßt, „aber was mir Wilten bringt, muß erledigt werden, wenn ich für den Abend frei sein will. Dann gehören wir uns allein, und dann soll Niemand uns stören. Komm’! Ich geleite Dich in Dein Zimmer!“

Er nahm ihren Arm und führte sie durch die Bibliothek und über den Corridor nach dem anderen Flügel hinüber. Wenige Minuten später trat er in den Salon, wo der Oberst ihn erwartete. Die Unterredung dauerte nur kurze Zeit. Nach kaum einer Viertelstunde verließ Wilten wieder das Schloß, und der Freiherr zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er sich von Neuem an den Schreibtisch setzte. Er hatte die Wahrheit gesagt: es kostete ihn unendlich viel, Gabriele auch nur auf Minuten zu entbehren, und doch entzog er sich ihr auf eine volle Stunde. Sie konnte doch nicht an seiner Seite sein, während er den Abschiedsbrief an sie schrieb. –

Im Schlosse hatte die unerwartete Ankunft der Baroneß Harder allerdings Befremden erregt, um so mehr, als sie ohne ihre Mutter eintraf, aber der alte Diener, der sie begleitete, gab die nöthige Auskunft darüber. Der Freiherr hatte seine Schwägerin und deren Tochter brieflich zu sich gerufen. Die Frau Baronin war aber leider wieder erkrankt und noch zu angegriffen, um die Reise zu unternehmen; sie hatte deshalb das Fräulein vorausgesandt und wollte in einigen Tagen nachkommen. Die Baronin hatte dieses Auskunftsmittel ergriffen, als sie die Unmöglichkeit einsah, ihre Tochter zu halten. Sie selbst war in der That nicht wohl, die Nachrichten des Grafen Selteneck hatten ihr einen erneuten Nervenanfall zugezogen, der sie hinderte, zu reisen, zur großen Erleichterung Gabrielens, die nur zu gut wußte, wie unwillkommen ihre Mutter dem Freiherrn in solchen Stunden war. Sie fügte sich geduldig dem Vorwande, und die einfache, natürliche Erklärung ihrer Abreise fand dort wie hier Glauben.

Der Abend war inzwischen hereingebrochen. Gabriele befand sich allein in ihrem Gemache und harrte auf die besprochene Rückkehr Arno’s. Der Besuch des Oberst Wilten fiel ihr nicht besonders auf, denn vor ihrer Abreise hatten ja so häufig Conferenzen zwischen ihm und dem Freiherrn stattgefunden. Sie hatte das Fenster geöffnet. Träumend lehnte sie in der Fensterbrüstung, als endlich der ersehnte Schritt sich hören ließ. Sie flog dem Kommenden entgegen, und er schloß sie in die Arme, als sei diese Stunde eine endlose Trennung gewesen.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüthen.

Ein Theolog über die Christlich-Socialen. Der orthodoxe Pastor Todt hat nicht blos in einem vielbesprochenen Buche die erste wirksame Anregung zur Gründung der neuen Secte „Christlicher Sozialisten“ gegeben, es ist ihm in diesem Buche auch eine recht offenherzige und leicht verständliche Andeutung über die eigentlichen Absichten dieser neuerdings so vieles Geräusch erregenden Bewegung entschlüpft. Um nämlich den Eifer der Amtsbrüder für diese jüngste Art pietistischer Wühlerei auf den erforderlichen Wärmegrad zu bringen, giebt ihnen Herr Todt ausdrücklich den Wink, daß „die Geistlichkeit, wenn sie dieser Richtung folgt, einen überwiegenden Einfluß auf die Institution der Völker behaupten werde“. Hierzu bemerkt der berühmte Theologe, Professor und Kirchenrath Schenkel in Heidelberg: Deutlich entlarvt sich in diesen Worten die hinter den Bestrebungen jener socialistische Partei lauernde Herrschsucht. Der ‚christliche Staatssocialismus‘ erklärt damit unumwunden: ‚Unser Reich ist von dieser Welt.‘ Und wenn er gar, wie dies unlängst geschehen ist, die abgenöthigte Enteignung der städtischen Hauseigenthümer zu Gunsten einer socialistischen Wohnungsgenossenschaft in das Programm seiner Vorträge aufnimmt, dann hat er sich auf die schiefe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_550.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2019)