Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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Zimmer. Draußen athmete er tief, tief aus, als sei eine Last von seiner Brust gesunken, und schlug dann mit raschem Schritte den Weg nach der Wohnung des Oberst Wilten ein.
Der Spätherbst war auch diesmal in R. und dessen Umgebung so rauh und unfreundlich gewesen, wie er in der Nähe des Hochgebirges meist zu sein pflegt. Jetzt aber, wo er Abschied nahm, schien sich das schwindende Leben der Natur noch einmal aufzuraffen. Die letzten Tage waren ungewöhnlich klar und mild gewesen, sodaß man sich um Monate zurückversetzt glaubte. Die Erde träumte noch einen letzten kurzen Traum von Sonnenglanz und Sommerluft, ehe sie sich den eisigen Banden des Winters gefangen gab.
Es war Nachmittag geworden. Freiherr von Raven saß am Schreibtische, mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt. Seine testamentarischen Verfügungen waren zwar schon seit längerer Zeit getroffen, aber es gab doch noch so Manches zu ordnen. Oberst Wilten hatte sich mit der größten Bereitwilligkeit zur Verfügung gestellt. Wenn ihm auch eine Verbindung seines Sohnes mit der Raven’schen Familie jetzt nicht mehr wünschenswerth erschien, so drückte ihn doch das kalte, gezwungene Verhältniß, das seit jener Erklärung zwischen ihm und dem Freiherrn waltete, und er ergriff mit Eifer die Gelegenheit, diesem einen Dienst zu leisten. Er hatte versprochen, alles Nöthiage abzumachen und selbst die Nachricht über die näheren Bestimmungen des Duells zu bringen, das auf morgen früh festgesetzt war.
Raven hatte soeben einem Brief beendigt und schrieb jetzt die Adresse: Doctor Rudolph Brunnow. Seine düstere Stirn furchte sich noch tiefer, als er mit sicheren und festen Schriftzügen den Namen auf das Papier warf.
„Ich konnte es Dir nicht ersparen, Rudolph,“ sagte er dumpf. „Du wirst nie die unglückselige Stunde verwinden, in der wir uns so gegenüberstehen, aber es gab keinen anderen Ausweg.“
Er legte den Brief bei Seite und ergriff von Neuem die Feder, aber diesmal schien sie seiner Hand nicht gehorchen zu wollen. Es dauerte Minuten, ehe er die ersten Zeilen schrieb, dann hielt er plötzlich inne – begann von Neuem – stockte wieder und zerriß endlich das Blatt. Wozu denn auch noch ein Lebewohl! Jedes Wort war ja doch in Bitterkeit gemacht. Der Brief konnte nur zu einem ewigen Vorwurf für die werden, an die er gerichtet war.
Der Freiherr warf die Feder von sich und stützte den Kopf in die Hand. Er hatte nicht umsonst den Augenblick gefürchtet, wo die einzige Empfindung, die ihn jemals schwach gesehen und die er tief in den Hintergrund zurückgedrängt hatte, sich wieder Bahn brechen werde. Es war ihm gelungen, während der letzten Stunden ruhig zu erscheinen, obgleich Haß, Empörung und tief gedemüthigter Stolz seine Seele tausendfach zerrissen, die gewohnte strenge Pünktlichkeit hatte ihn auch beim Ordnen seiner Angelegenheiten nicht verlassen. Jetzt war Alles geordnet, Alles beendigt, bis auf eins – jetzt brach dieses Bitte wieder hervor, mit der alten widerstehlichen Gewalt, und mit ihm brach die Fassung des sonst so eisernen Mannes zusammen.
Freilich waren es keine weichen und zärtlichen Regungen, die ihn erfüllten. Die Natur Arno Raven’s war nicht darnach geartet, zu entsagen oder zu verzeihen, wo er sich verrathen glaubte. Sein eigener Wille hatte die Trennung verhängt und Gabriele fortgesandt, und er bereute dies nicht. Entweder – oder war von jeher der Wahlspruch seines Lebens gewesen; auch die Geliebte hatte er entweder ganz und ungeteilt besitzen oder verlieren wollen. Nun wohl, er hatte sie verloren, an einen Anderen verloren, der das mächtige Recht der Jugend und der ersten Liebe geltend zu machen wußte. Der Freiherr zweifelte nicht daran, daß die Beziehungen zu Winterfeld in der Residenz wieder aufgenommen wurden. Der tyrannische Vormund, der so lange trennend zwischen dem jungen Paare gestanden trat ja nun zurück und gab ihnen volle Freiheit, sich wieder einander zu nähern, und die Baronin war viel zu charakterlos, um sich dauernd den Wünschen ihrer Tochter zu widersetzen, wenn die Furcht vor dem Schwager sie nicht länger gefesselt hielt. Ueberdies nahm Winterfelds Laufbahn ja jetzt einen so ungeahnten Aufschwung, und damit fiel das größte Hinderniß dieser Verbindung. Es ging Alles seinen natürlichen, längst vorgezeichneten Weg, den eine unsinnige Leidenschaft vergebens zu kreuzen suchte. Wie konnte denn auch ein Wesen wie Gabriele eine solche Leidenschaft verstehen und erwidern! Es mochte sie geblendet und ihrer Eitelkeit geschmeichelt haben, der Gegenstand derselben zu sein. Von tieferen Empfindungen war dabei keine Rede, und als es sich um eine Wahl handelte, da wandte sich das aufblühende Mädchen dem zu, der ihr Jugend und Glück zu bieten hatte. Dieses holde, sonnige Geschöpf gehörte nicht in die dunkle Stunde, wo die Ehre und das Leben eines Mannes zusammenbrachen.
Der schöne, aber kurze Herbsttag neigte sich zu Ende, und die Strahlen der Abendsonne suchten und fanden ihren Weg in das Zimmer. Durch das Bogenfenster wogte ein breiter, goldiger Lichtstrom in das Gemach und erfüllte es mit seltsam verklärendem Schimmer. Raven’s Blick haftete düster auf diesem Lichtglanz. So war der Sonnenstrahl auch in sein Leben gedrungen, hatte eine kurze Zeit lang alles in Gluth und Verklärung getaucht und war dann erloschen, um ihn in Nacht und Einsamkeit zurück zu lassen. Vergebens suchte er sich von der Erinnerung loszureißen oder sie in Bitterkeit zu ersticken, es führte ihn ja doch Alles wieder auf Gabriele zurück; jeder Gegenstand, jeder Gedanke gewann Bezug auf sie. Er hatte abgeschlossen mit der Vergangenheit, mit der Welt und dem Leben, aber die wilde, Alles überfluthende Sehnsucht nach dem einzigen Wesen, das er je geliebt, hielt ihn fest an der Schwelle dieses Lebens. Ein schwerer, qualvoller Athemzug rang sich wie ein Stöhnen aus seiner Brust empor. Er war ja jetzt allein und brauchte die Maske stolzer unnahbarer Ruhe nicht mehr; sie jetzt noch festzuhalten ging über Menschenkräfte. Er preßte die Hand gegen die glühende Stirn und schloß die Augen.
Ewige Zeit war so in dumpfem Hinbrüten vergangen, da wurde leise, fast unhörbar die Thür geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen. Raven bemerkte es nicht und regte sich nicht, bis das Rauschen eines Frauenkleides ihn aufschreckte. Er wandte sich um und zuckte zusammen, aber der Aufschrei, der sich seinen Lippen entringen wollte, erstarb und keines Wortes mächtig starrte er die Erscheinung an, die doch nur ein Gebilde seiner Phantasie sein konnte. Ihm gegenüber, mitten in dem Lichtstrome, stand Gabriele, so regungslos, so goldig umwogt von den Strahlen, als sei sie wirklich nur eine Erscheinung, die die glühendste, leidenschaftlichste Sehnsucht herangezwungen hatte, und die in der nächsten Minute so spurlos wieder verschwand, wie sie gekommen war.
Der Freiherr hatte sich erhoben.
„Du – Du bist es,“ sagte er endlich mit stockendem Atem. „Ich glaubte Dich weit entfernt.“
„Ich habe heute Morgen die Residenz verlassen,“ erwiderte das junge Mädchen leise. „Ich bin soeben erst angekommen. Man sagte mir. Du seist in Deinem Zimmer.“
Raven antwortete nicht; sein Blick hing noch immer an der zarten, lichten Gestalt, als könne er nicht an die Wirklichkeit ihrer Nähe glauben. Er wußte nur, daß sie da war – wie, warum, darnach fragte er im Augenblicke nicht. Gabriele schien dieses Schweigen zu mißdeuten; sie stand scheu und ängstlich da, als wage sie es nicht, ihm zu nahen; endlich faßte sie Muth und kam langsam näher.
„Wirst Du mich wieder von Dir weisen, Arno, wenn ich Dir sage, daß Du mir Unrecht gethan hast mit Deinem Verdachte? Ich hätte es längst thun sollen, aber Du stießest mich so rauh, so hart zurück – Du wolltest mich nicht einmal anhören. Da regte sich auch mein Trotz; ich wollte nicht um den Glauben bitten, den Du mir versagtest. Ich,“ sie stand jetzt dicht an seiner Seite und sah bittend zu ihm auf, „ich wußte nichts von jenem Angriff. Erst in der Abschiedsstunde sagte mir Georg, daß er in einen Kampf gegen Dich gehe. Ich drang vergebens in ihn; er wollte sich nicht näher erklären, und wenige Minuten darauf mußten wir uns trennen. Seitdem erfuhr ich kein Wort, keine Silbe weiter, bis zu der Stunde, wo Du mir die Schrift vor Augen hieltest. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, Du hättest es erfahren. Ich habe Dich nicht verrathen, Arno – gewiß nicht!“
Ihr Antlitz und ihre Stimme trugen deutlich genug den Stempel der Wahrheit. Raven ergriff mit einer heftigen Bewegung ihre Hand. Noch lag die wilde, forschende Unruhe in seinen Zügen, als er Gabriele an sich zog und, ohne ein Wort
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_548.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2016)