verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Durchaus nicht, ich befinde mich in vollkommen normalem Zustande,“ versicherte Max, und fuhr dann in einem Zuge zu reden fort, ohne seinen Zuhörer zur Besinnung kommen zu lassen: „Was nun meinen Antrag betrifft, so gründet er sich auf die innigste gegenseitige Zuneigung. Die Einwilligung Ihrer Tochter habe ich bereits. Agnes hat mir Herz und Hand gegeben, natürlich unter Vorbehalt Ihrer Zustimmung. Ich bitte hiermit darum und gebe mich der frohen Hoffnung hin, daß es mir vergönnt wird, den Vater meiner Braut auch als den meinigen umarmen zu dürfen. Also, mein theurer Schwiegervater –“
Er ging mit ausgebreitete Armen auf den Hofrath zu, aber dieser rettete sich durch einen Sprung vor der beabsichtigten Umarmung. Das schreckliche Wort „Schwiegervater“ riß ihn aus seiner Erstarrung. Mit einer bloßen Ueberrumpelung war der alte Bureaukrat denn doch nicht zu erobern.
„Sie sprechen in vollem Ernste von einer Heirath?“ rief er. „Von einer Heirath mit meiner Tochter, deren Bestimmung für das Kloster Sie doch kennen? Und das wagen Sie, der Sohn eines Staatsverbrechers – – eines Staatsverräthers?“
„Mein Gott, ich suche ja keine Staatsanstellung, sondern eine Frau,“ vertheidigte sich der junge Arzt. „Ich begreife wirklich nicht, weshalb Sie sich über meinen Antrag so entsetzen.“
„Das fragen Sie noch? Ihr Vater hat die Regierung umstürzen wollen.“
„Nun, ich habe nicht dabei geholfen, und das wäre auch nicht gut möglich gewesen, da ich damals soeben erst das vierte Lebensjahr erreicht hatte. Uebrigens sind das alte, längst vergessene Geschichten; mein Vater ist anmestirt worden.“
„Revolutionär bleibt Revolutionär!“ erklärte der Hofrath mit Nachdruck. „Die Amnestie kann wohl die Strafe abwenden, aber sie kann niemals die Vergangenheit auslöschen.“
Max nahm eine entrüstete Miene an. „Wie, Herr Hofrath – das muß ich von Ihnen hören? Sie, der sich stets rühmte, der loyalste Unterthan seines Souverains zu sein, Sie weigern sich jetzt, dessen Beschlüsse anzuerkennen? Der allergnädigste Souverain hat verziehen, sagen Sie selbst; er will, daß das Vergangene vergessen und ausgelöscht sein soll. Sie wollen das nicht, Sie erlauben sich einen Eingriff in die allerhöchsten Entschließungen, eine Auflehnung gegen die Autorität des Landesherrn. Das ist Opposition, Rebellion mit einem Worte – Hochverrath.“
Diese wunderbare Beweisführung wurde mit einer solchen Geläufigkeit und Sicherheit gegeben, daß es unmöglich war, ein Wort dazwischen zu werfen oder darüber nachzudenken. Der Hofrath war denn auch vollständig verblüfft. Er starrte den Sprechenden ganz fassungslos an und fragte endlich kleinlaut:
„Meinen Sie das wirklich?“
„Es ist meine unumstößliche Meinung. Um nun aber wieder auf meinen Heirathsantrag zu kommen –“
„Kein Wort davon!“ unterbrach ihn Moser. „Es ist Beleidigung. Meine Tochter ist die Braut des Himmels.“
„Ich bitte um Entschuldigung, sie ist meine Braut,“ behauptete Max. „Der Himmel kann warten, ich aber nicht. Nach fünfzigjähriger glücklicher Ehe habe ich nichts dagegen, ihm Agnes abzutreten, bis dahin aber nehme ich sie für mich ganz allein in Anspruch.“
„Wollen Sie etwa die heilige Bestimmung meines Kindes verspotten?“ rief der Hofrath, von Neuem in Wuth gerathend. „Ich weiß es längst, Sie sind ein Ungläubiger, ein Gottesleugner, ein –“ die Stimme versagte ihm, er rang nach Athem und griff mit beiden Händen nach seiner Halsbinde.
„Regen Sie sich nicht auf!“ warnte der junge Arzt. „Solche heftige Erregungen können in Ihrem Alter und bei Ihrer Constitution gefährlich werden. Sie neigen entschieden zu Schlagflüssen.“ Die lange, hagere Gestalt Moser’s widersprach auf das Entschiedenste dieser Annahme, aber das kümmerte den Doctor Brunnow nicht, der ruhig fortfuhr: „Nebenbei gesagt, es ist bei einer solchen Constitution von unglaublichem Vortheil, einen Schwiegersohn zu haben, der Arzt ist und selbstverständlich mit großer Sorgfalt über das Leben und die Gesundheit seines Schwiegervaters wachen würde. Wie gesagt, Sie dürfen sich nicht aufregen.“
„Sie regen mich auf,“ rief der Hofrath, der bei dieser fortwährenden Betonung des schwiegerväterlichen Verhältnisses ganz wild wurde. „Sie werden mir einen Schlaganfall zuziehen mit Ihren abscheulichen Behauptungen. Ich fühle mich schon ganz unwohl – das Blut steigt mir nach dem Kopfe; ich brauche Luft –“ damit sank er in den Lehnstuhl zurück und faßte wieder nach seiner Halsbinde. Max kam ihm freundschaftlich zu Hülfe und löste den Knoten.
„Wir wollen vor allen Dingen dieses weiße Ungethüm entfernen,“ sagte er. „Dann wird Ihnen leichter werden. Ich habe ein unfehlbares Mittel gegen Congestionen und werde es Ihnen sogleich verschreiben. Dergleichen Zufälle sind bedenklich, – wir müssen vorsichtig sein.“
Moser sah mit Wehmuth seine geliebte Halsbinde in den Händen des Doctors, der sie säuberlich zusammenfaltete und auf den Tisch legte. Mit der Entfernung des „weißen Ungethüms“ schien aber wirklich die Heftigkeit von dem alten Herrn gewichen zu sein, und die Drohung wegen des Schlaganfalls hatte ihn ängstlich gemacht. Er sah geduldig zu, wie sein Quälgeist an den Schreibtisch ging, ein Recept – ein ganz unschädliches nervenstillendes Mittel – verschrieb und mit dem Papier in der Hand zu ihm zurückkehrte.
„Sechs Tropfen in einem Glase Wasser,“ sagte er mit ungemeiner Wichtigkeit.
„Wie oft?“ brummte der Hofrath.
„Dreimal täglich.“
„Ich danke Ihnen.“
„Gar keine Ursache.“
Wer in der Richtung von Berlin in mondheller Nacht nach Stralsund kommt, erfreut sich sogleich des schönsten Blickes auf die alte stattliche Hansastadt am Strelasunde. Wenn der Zug das Fort auf dem Paschenberge erreicht hat und in den Bahnhof einbiegt, so breitet sich vor den überraschten Blicken des Ankommenden die weite, mondbeglänzte und schilfumrauschte Fläche des Frankenteiches auf. Dahinter erhebt sich die Ehrfurcht gebietende, wuchtige Masse der Marienkirche, und aus der Häusermenge strecken die übrigen Kirchen, vor allen die Nicolaikirche, ihre gewaltigen Thürme gen Himmel.
Die Fläche, auf welcher Stralsund liegt, ist ein fast gleichseitiges Dreieck, dessen drei Seiten von dem Frankenteiche, dem Knieperteiche und dem schmalen Meeresarme gebildet werden, der Rügen von Pommern trennt; nur durch drei Dämme – zur Zeit der Wallenstein’schen Belagerung ware es fünf – ist die Stadt zugänglich. Von allen Seiten hat man lohnende Blicke auf die interessante alte Stadt, besonders auch von der Seeseite. Wenn man im leichten Segelboote oder auf der Dampffähre von dem gegenüber liegenden Rügensche Orte Alte Fähre herüberkommt, so sieht man in ganzer Breite neben der dem Patrone der Schiffer, dem heiligen Nicolaus (Sünteklas) geweihten Kirche das stattliche Rathhaus mit seiner luftigen, durch sieben gothische Thürmchen verzierte Façade. Weit über die Insel Hiddensee hinaus in’s offene Meer sind die Thürme von Stralsund dem Schiffe eine sicher führende Landmarke. Vor Jahrhunderten als noch die Marienkirche die alte stilgerechte, bis zur Höhe von dreihundertfünfundsechszig Fuß aufragende Steinpyramide statt des jetzigen verschnürten Thurmes auf ihrem stattliche Octogone trug, war ihre Spitze meilenweit draußen in See und Land sichtbar. Außer dem Hauptthurme und dem Vierungsthurme zählte man damals noch zehn andere, im Ganzen zwölf, und zweiundfünfzig Fenster in dem gewaltigen dreischiffigen Gotteshause, das jetzt durch die von dem kunstsinnigen König Friedrich Wilhelm dem Vierten gestifteten gemalten Fenster einen besonderen Schmuck erhalten hat.
Doch nicht von Stralsunds herrlichen Backsteinbauten, durch die es sich den andern baltischen Hansastädte würdig anreiht,
verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1878, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_514.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2019)