Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Warum nicht?“ warf Max ein, „Du hast Dich stets mit der größten Erbitterung gegen das unheilvolle Regiment des Freiherrn ausgesprochen, hast seinen Sturz als eine Nothwendigkeit bezeichnet, und jetzt, wo dieser Sturz allen Anzeichen nach bevorsteht, willst Du nicht die Hand dazu bieten?“
„Laß das, Max,“ sagte der Doctor finster. „Du weißt nicht, was es heißt, einen tödtlichen Schlag gegen den zu führen, den man einst geliebt hat mit der ganzen Gluth seiner Seele. Ich hoffte, Winterfeld würde mit seinem Angriffe durchdringen, ich hätte Arno Raven besser kennen sollen. Er hielt auch diesem Gegner Stand – zu seinem Unglück. Damals hätte er noch weichen, zurücktreten können, jetzt fällt er, fällt als ehrloser Verräther, gebrandmarkt mit der Schande der Verachtung, und das ist für eine Natur wie die seinige zehnfacher Tod. Ich –“ hier erhob sich Brunnow mit Heftigkeit – „ich will ihm nicht auch noch den letzten Stoß versetzen. Mögen die, welche das Werk begonnen haben, es auch vollenden! Es bleibt dabei; ich reise übermorgen.“
Max drang nicht weiter in den Vater. „Ich werde Dir wohl erst in einigen Wochen folgen können,“ bemerkte er nach einer kurzen Pause. „Ich verlasse R. nur als erklärter Bräutigam, wenn ich die Einwilligung des Hofraths und überdies die Gewißheit habe, daß Agnes vor etwaigen Einflüsterungen und Quälereien der geistlichen Vormundschaft sicher ist. Aber vor allen Dingen – darf ich auf Deine Zustimmung rechnen?“
Er hielt dem Vater bittend die Hand hin, und dieser legte ohne Zögern die seinige hinein.
„Ich habe Deine Braut nur einmal gesehen,“ sagte er, „und gerade weil ihr Anblick mich so sympathisch berührte, glaubte ich nicht, daß sie im Stande wäre, Dich zu fesseln. Wir waren bisher sehr verschieden in unseren Neigungen. Meine Bedenken gelten einzig der Verschiedenheit Eurer Erziehung und Charaktere; wenn Du glaubst, das überwinden zu können, mein Sohn – ich will Dich nur glücklich wissen.“
Ein herzlicher Händedruck besiegelte die Worte, und Max rief triumphirend: „Jetzt gehe ich stehenden Fußes zu dem Hofrath und jage den allergetreuesten Unterthan seines allergnädigsten Souverains in Entsetzen mit der Aussicht auf einen demagogischen Schwiegersohn. Ich darf Dich doch auf eine Stunde allein lassen, Papa? Du brauchst ohnehin Ruhe nach all den Glückwünschen und Antheilbezeigungen, mit denen man Dich heute Morgen überschüttet hat. Auf Wiedersehen – ich laufe Sturm auf meinen künftigen Schwiegervater.“ – –
Der Hofrath Moser saß ohne jede Ahnung dessen, was ihm bevorstand, in seinem Wohnzimmer und las die Zeitungen; sie verdarben ihm seinen Kaffee und seine Ruhe. Der Hofrath las natürlich nur die Regierungsblätter, aber auch diese vermochten es nicht mehr, die traurige Thatsache zu verschleiern, daß es rettungslos abwärts ging mit dem Staate, immer weiter auf der abschüssigen Bahn des Liberalismus. Und nun vollends die Nachrichten aus R., die jetzt eine stehende Rubrik in den größeren Journalen bildete! Moser hatte längst mit Erstaunen und Befremdung bemerkt, daß die gesammte Regierungspresse, statt in der nachdrücklichsten Weise für den Gouverneur der -schen Provinz Partei zu nehmen, sich zu der ganzen Angelegenheit sehr lau und gleichgültig verhielt, ihr Verhalten den letzten Vorgängen gegenüber aber überstieg alle Begriffe. Keine energische Vertheidigung des Freiherrn, keine Empörung über die schändliche Anklage, nichts von Maßregeln gegen die verleumderische Zeitung! Man sprach von einer „unglaublichen Beschuldigung“, hoffte, daß es dem Gouverneur gelingen werde, sich davon zu reinigen und deutete an, daß im andere Falle seine Entlassung unvermeidlich sei; man gab also doch die Möglichkeit jener Thatsache zu. Und unmittelbar unter diesem Artikel stand die Nachricht, daß der ehemalige Hochverräther, Doctor Rudolph Brunnow, vollständig begnadigt und heute aus der Haft entlassen worden sei. Der Hofrath versank in finstere Gedanken.
Er ging schon seit längerer Zeit mit dem Entschlusse um, sich pensioniren zu lassen. Seiner Pflicht gegen den Staat hatte er in beinahe vierzigjährige Dienste Genüge geleistet. Seine Tochter, das einzige Kind einer spät geschlossenen und früh durch den Tod zerrissenen Ehe, verließ ihn schon im nächsten Monat, um als Novize in ein Kloster zu treten; er selbst war alt und der Ruhe bedürftig. Auch seine Stellung, einst sein höchster Stolz, machte ihm keine Freude mehr. Der neue Geist, der jetzt durch das Land wehte, drang selbst bis in die geheiligten Räume der Regierungskanzlei. Noch hielt die eiserne Hand des Freiherrn die Zügel straff, aber Moser dachte mit Schrecken daran, was geschehen werde, wenn diese Hand nun wirklich niedersank. Er glaubte kein Wort von den Lügen, die man überall ausstreute. Der Gouverneur konnte und mußte sie zu Boden schmettern, aber nach der unerhörten Behandlung, die er von der Regierung selbst erfuhr, entschloß er sich schwerlich zum Bleiben. Der Hofrath fühlte, daß seine Zeit vorbei sei, und war fest entschlossen, dem Beispiele seines Chefs zu folgen, wenn dieser seine Entlassung nahm.
Das Oeffnen der Thür weckte Moser aus seinen Grübeleien. Christine meldete den Herrn Doctor Brunnow, und gleich darauf trat dieser ein. Der Hofrath stand auf und ging dem Gaste mit steifer Höflichkeit entgegen.
„Ich hoffe, Sie werden es nicht mißdeuten, Herr Hofrath, daß ich in den letzten beiden Wochen Ihrem Hause fern geblieben bin,“ begann Max nach der ersten Begrüßung, indem er den angebotenen Platz einnahm. „Es war nur die Rücksicht auf Sie und Ihre Stellung. – – Jetzt, da mein Vater – –“
„Ich weiß bereits von seiner Begnadigung,“ fiel der Hofrath ein, ohne seine Förmlichkeit fahren zu lassen. „Unser allergnädigster Souverain hat verziehen.“
„Ja, und damit ist das Vergangene vollständig ausgeglichen,“ sagte Max mit Beziehung. „Was meinen Vater betrifft, so wird er allerdings nicht von der Erlaubniß Gebrauch machen, in seinem Vaterlande zu bleiben.“
„Nicht?“ fragte Moser sichtlich erleichtert. Der Gedanke, daß er dem ehemaligen Hochverräther freundschaftlich die Hand gedrückt hatte, lastete noch immer auf seinem Gewissen.
„Nein, er kehrt nach der Schweiz zurück, die ihm wie mir eine zweite Heimath geworden ist,“ erklärte der junge Arzt. „Wir werden auch künftig dort leben. Zuvor aber drängt es mich, Ihnen nochmals meinen Dank auszusprechen für Alles, was ich in Ihrem Hause Gutes empfangen habe. Ich werde es nie vergessen.“
Der Hofrath neigte zustimmend das Haupt; er fand diesen Dank ganz in der Ordnung.
„Sie kommen also, um Abschied zu nehmen?“ fragte er. „Ich freue mich aufrichtig, Sie wieder so völlig kräftig und lebensfrisch zu sehen, und auch meine Tochter wird erfreut sein, wenn ich es ihr mittheile.“
Diese Mittheilung war nun gerade nicht nöthig, denn Agnes wußte sehr genau, wie es mit ihrem früheren Patienten stand. Seit er das Haus ihres Vaters verlassen hatte, sah sie ihn regelmäßig bei ihrem beiderseitige Schützlinge, der Frau des Copisten. Diese war zwar vollständig wieder hergestellt und bedurfte weder des ärztlichen Beistandes noch des geistlichen Trostes mehr, aber Arzt und Trösterin setzten mit rührender Ausdauer ihre Besuche fort.
„Dem Fräulein,“ entgegnete Max, „bin ich noch ganz besonderen Dank schuldig. Sie allein – ihre aufopfernde Pflege hat mich dem Leben zurückgegeben, und Sie gestatten es daher wohl, daß ich in Bezug auf Fräulein Agnes noch eine Bitte ausspreche.“
Moser nickte zum zweiten Male; er war geneigt die Bitte zu gewähren, die jedenfalls auf die Erlaubniß hinausging, sich auch von Agnes verabschieden zu dürfen.
Aber Max erhob sich und sagte ohne alle Ceremonie: „Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter.“
Der Hofrath, der eben im Begriff war, zum dritten Male zu nicken, hielt inne und saß mit offenem Munde da. Im ersten Augenblicke faßte er überhaupt nicht, wovon die Rede war, dann erhob er sich gleichfalls, aber nicht stürmisch, sondern langsam, feierlich. Die lange Gestalt wuchs immer höher aus dem Lehnstuhle empor, wurde immer länger und unheimlicher, bis sie endlich in ihrer vollen Größe dastand und über die hohe weiße Halsbinde hinweg vernichtend auf den jungen Arzt herniederschaute, der jedoch dadurch nicht im Mindesten aus der Fassung gebracht wurde.
„Ich – ich hörte wohl nicht recht?“ sagte der alte Herr endlich. „Sie meinten –?“
„Ich halte um die Hand Ihrer Tochter an,“ versetzte Max mit Seelenruhe.
„Sind Sie von Sinnen?“ fragte Moser, noch immer erstarrt, denn wenn ihm auch das Unglaubliche wiederholt wurde – begreifen konnte er es nicht.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_513.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2016)