Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
„die Frau von Harder sehr peinlich berühren werden. Sie betreffen ihren Schwager, den Freiherrn von Raven.“
Er hatte die Thür nach dem Salon geschlossen, aber das Zimmer hatte noch einen zweiten Ausgang, der nur durch eine Portière verdeckt war. Die Sprechenden blieben in unmittelbarer Nähe desselben stehen, gerade in dem Augenblicke, wo Gabriele eintreten wollte, um sich nach dem Salon zu begeben. Sie vernahm die letzten Worte und den Namen des Freiherrn, und das war genug, sie unbeweglich an den Platz zu fesseln, wo sie stand. Hinter der Portière verborgen, lauschte sie athemlos.
„Der Gouverneur hat doch nicht etwa seine Entlassung genommen?“ fragte die Gräfin.
„Davon ist jetzt nicht mehr die Rede,“ sagte Selteneck. „Wäre dem so, nun, so theilte er das Schicksal mancher hohen Staatsbeamten, die nur zeitweise vom Schauplatz abtreten. Was ich soeben bei meinem Bruder hörte, ist so ernster Natur, daß, wenn es sich bestätigt – und es stammt direct aus dem Ministerium – der Freiherr ein für alle Mal unmöglich geworden ist.“
Die Gräfin sah ihren Gemahl erschrocken an; er fuhr in gedämpftem, aber für Gabriele deutlich vernehmbaren Tone fort:
„Die erste Zeitung von R. hat einen Artikel gebracht, der eine geradezu vernichtende Anklage gegen den Gouverneur enthält. Man sprach wohl hin und wieder davon, daß auch Raven nicht ganz unbetheiligt an der früheren revolutionären Bewegung gewesen sei, aber wie Viele haben sich damals nicht fortreißen lassen! Das sind Jugendextravaganzen, auf die man kein Gewicht legt, wenn sie bloße Ideen bleiben. In jenem Artikel wird aber behauptet, der Freiherr sei ein Mitglied, ja einer der Führer jener Verbindung gewesen, deren Haupt man in dem Doctor Brunnow – demselben, dessen Wiederverhaftung kürzlich so großes Aufsehen machte – verurtheilt zu haben glaubte. Es wird behauptet, Raven habe in der ehrlosesten Weise seine Freunde verrathen und die sämmtlichen Papiere und Beweismittel ausgeliefert; seine Anstellung im Ministerium sei der Preis dieser Infamie gewesen. Die Beschuldigung ist mit einer Bestimmtheit und Rücksichtslosigkeit ausgesprochen worden, die kaum noch daran zweifeln läßt, und man beruft sich auf das Zeugniß Brunnow’s selbst.“
„Und was hat Raven geantwortet?“ fiel die Gräfin hastig ein.
„Er erklärte Alles für Lüge – das gebietet ihm einfach die Pflicht der Selbsterhaltung, von Gegenbeweisen aber verlautet noch nichts. Gelingt es ihm nicht, die Sache aufzuklären und sich von dem Verdachte zu reinigen, so ist seine Rolle ausgespielt.“
„Die arme Mathilde!“ rief die Gräfin.
Der Graf zuckte die Achseln. „Wollen wir ihr die Vorgänge einstweilen noch verschweigen?“
„Nein,“ erwiderte die Gräfin, sie erfährt sie morgen durch die Zeitungen. „Man muß ihr Alles sagen.“
Beide kamen überein, die beabsichtigte Fahrt nach der Oper aufzugeben und kehrten in den Salon zurück. Gabrielens Antlitz war geisterbleich, als sie ihren Platz verließ und in ihr Zimmer zurückkehrte. Sie täuschte sich keinen Augenblick über die wahre Bedeutung des eben Gehörten. Der Instinct der Liebe lehrte sie den Charakter Raven’s besser beurtheilen, als es der erfahrenste Menschenkenner vermocht hätte. Sie wußte, daß der Freiherr jedem Kampfe, jedem Schicksalsschlage gewachsen war, nur dem Einen nicht, das sich Schande und Demüthigung nannte, und gerade dieses Eine hatte man jetzt über ihn heraufbeschworen.
Während die Gräfin Selteneck der Baronin die peinliche Neuigkeit mittheilte, warf das junge Mädchen am Schreibtische mit fieberhafter Eile einige Zeilen auf das Papier. Es waren nur wenige Worte, und die Adresse lautete an den Assessor Winterfeld. Der Brief fand ihn sicher im Ministerium. Er enthielt nichts weiter, als die Nachricht von ihrem Hiersein, die Bitte, sie morgen im Selteneck’schen Hause aufzusuchen – kein Wort weiter. – –
Am Nachmittage des nächsten Tages trat Georg Winterfeld in den Salon der Gräfin. Gabriele trat auch schon nach wenigen Minuten ein, und Georg eilte ihr mit stürmischer Freude entgegen.
„Gabriele, meine Gabriele, endlich sehen wir uns wieder.“
Er fühlte in seinem Entzücken gar nicht, daß ihre Hand regungslos in der seinigen lag, ohne deren Druck zu erwidern, und daß die ganze Antwort auf seine zärtliche Begrüßung nur in einem matten, traurigen Lächeln bestand. Er fuhr in derselben freudigen Erregung fort:
„Aber was bedeutet das Alles? Ich glaubte Dich noch in R. und erfahre jetzt erst, daß Du hier in der Residenz, in meiner Nähe, weilst. Und wie soll ich mir den Brief erklären, der mich zu Dir ruft? Weiß Deine Mutter von dieser Einladung?“
„Nein,“ sagte Gabriele mit ungewohnter Entschiedenheit. „Sie ist mit der Gräfin Selteneck ausgefahren. Bei ihrer Rückkehr werde ich ihr aber mittheilen, daß und warum ich Dich hergerufen habe. Sie würde diese Unterredung nicht gestattet haben, und ich mußte Dich sprechen.“
Georg sah sie ein wenig erstaunt an. Ein solcher entschlossener Schritt war sonst Gabrielens Sache nicht.
„Auch ich sehnte mich unendlich, Dich zu sprechen,“ erwiderte er. „Es war mir nicht möglich, Dir Nachricht zu geben. Ich kann und darf keine Beziehungen mit dem Hause des Gouverneurs unterhalten, am wenigsten gegen seinen Willen. Du weißt ja, wie ich ihm jetzt gegenüberstehe.“
„Ich habe es von – Anderen hören müssen. Du gingst von mir mit dunklen Andeutungen, die ich kaum verstand. Du ließest die Wahrheit ganz unvorbereitet über mich hereinbrechen.“
Georg verstand den Vorwurf. „Verzeih!“ bat er innig. „Es geschah einzig und allein um Deinetwillen. Ich durfte Dich nicht zur Mitwisserin eines Vorhabens machen, das gegen den Mann gerichtet war, in dessen Hause, unter dessen Schutze Du lebst. Zürnst Du mir deswegen? Du ahnst nicht, wie viele Kämpfe ich mit mir selbst zu bestehen hatte, ehe ich mich zu diesem Schritte entschloß.“
„Er hat Dir ja Glück gebracht –“ die Stimme des jungen Mädchens hatte einen seltsamen, beinahe hohnvollen Klang – er hob Dich mit einem Schlage aus der Verborgenheit empor: „Dein Name wird jetzt überall genannt.“
Das schöne, ernste Antlitz Winterfeld’s verdüsterte sich. „Es drückt mich schwer genug, daß es durch eine solche Veranlassung geschieht. Ich hatte auf diesen Erfolg am wenigsten gerechnet. Oder zweifelst Du an dem, was ich Dir bei unserer Trennung sagte? Zweifelst Du daran, Gabriele, daß kein persönliches Rachegefühl gegen den Freiherrn mich antrieb und daß jene Schrift entstand, ehe wir uns kannten? Ich war darauf gefaßt, daß sie mir verhängnißvoll werden würde, denn ich kannte den Gegner, den ich reizte. Meine Stellung, meine ganze Zukunft vielleicht standen auf dem Spiele, aber es galt, die tyrannische Macht eines Mannes zu brechen, an den sich Niemand wagte. Ich wagte es und war bereit, die Folgen zu tragen, doch wenn je eine Sache eine unerwartete Wendung nahm, so war es diese. Ich wurde von allen Seiten gedeckt und gestützt, und der Gouverneur wurde preisgegeben. Ich hatte keine Ahnung davon, welche mächtige Strömung gerade in den Kreisen, die ich am meisten fürchtete, mein Auftreten begünstigte.“
Er hatte klar und ruhig gesprochen, aber in seinem Auge lag eine unruhige und schmerzliche Frage, welche die Lippen verschwiegen. Er konnte sich in das Wesen der Geliebten nicht finden; sie stand ihm so fremd, so kalt gegenüber, ohne ein Zeichen der Theilnahme. Kein Wort der Zärtlichkeit fiel bei diesem Wiedersehen nach wochenlanger Trennung; statt dessen wurden Dinge erörtert, die Gabrielen einst unendlich fern lagen und jetzt ihr alleiniges Interesse zu fesseln schienen. Was war mit ihr vorgegangen?
„Noch eine Frage, Georg!“ nahm sie wieder das Wort. „Jener letzte Angriff, jene schändliche Verleumdung, welche die Zeitungen brachten – hast Du irgend einen Antheil daran.“
„Nein, die plötzliche Enthüllung überraschte mich nicht weniger als Andere, und ich weiß nicht, von wem sie stammt. Ich kämpfe nicht mit anonymen Beschuldigungen, die sich an eine längst entschwundene Vergangenheit heften. Wenn ich jene Thatsache für meine Schrift hätte verwerten wollen, so wäre der Sturz des Gouverneurs längst entschieden, denn ich kannte sie schon seit Monaten.“
„Die Thatsache?“ fuhr Gabriele auf. „Es ist eine Lüge. Wie kannst Du nur einen Augenblick daran zweifeln?“
„Es ist eine Thatsache,“ sagte der junge Mann ernst. „Ich weiß sie aus dem Munde eines Mannes, dem es schwer genug wurde, als Ankläger gegen seinen einstigen Freund aufzutreten. Es ist der Vater Max Brunnow’s.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_502.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)