Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
Entbehrungen preisgegeben; auch die Munition, durch Nachlieferungen nicht ergänzt, fing an zu mangeln. Von ihren ehemaligen Verbündeten im Stich gelassen, an Geist und Körper ermattet, wie wilde Thiere von den verfolgenden Truppen gehetzt, lieferten sie sich schließlich selbst in die Hand der Obrigkeit. In vielen Fällen scheinen unter den Räubern selbst blutige Kämpfe stattgefunden zu haben; wenigstens hat man zu verschiedenen Malen die verstümmelten Leichen bekannter Räuber in Feldern und an einsamen Waldstellen gefunden.
Nach etwa halbjährigen Kämpfen konnte die Regierungsgewalt erklären, daß in der Provinz Palermo kein Räuber mehr auf freiem Fuße sich befinde. Kaum aber war der Schrecken von der Brust der Bewohner genommen, als auch schon die heftigsten Angriffe gegen den energischen Präfecten und den Minister des Innern sich erhoben, weil dieselben in zahlreichen Fällen gegen Unschuldige das Zwangsdomicil verhängt. Daß bei Ausnahmezuständen, wie die geschilderten, Versehen leicht vorkommen können, ist gewiß; gewiß nicht minder, daß die der Regierung eingeräumte Befugniß in manchen Fällen der Privatrache der Denuncianten gedient hat; endlich scheinen leider auch Fälle des Mißbrauchs zu politischen Zwecken vorgekommen zu sein.
Vorläufig aber ist das Ziel erreicht; das Räuberwesen hat auch in Sicilien aufgehört, eine regelmäßige Erscheinung zu sein; der Einheimische wie der Fremde können ohne Furcht die Schönheiten der gesegneten Insel genießen, aber die unheimliche Gesellschaft der Maffia, diese große Beförderin des Verbrechens, hat aus dem Sturme, der über sie ergangen, die Existenz gerettet; scheint sie gegenwärtig todt, so liegt sie in Wahrheit doch nur im Schlafe, aus welchem sie bei passender Gelegenheit zu neuer verderblicher Thätigkeit erwachen wird, wenn es nicht gelingt, durch Erhöhung des Bildungsstandes und Ausbesserung der wirthschaftlichen Verhältnisse geistige und leibliche Armuth zu beseitigen und damit dem Räuberwesen die eigentlichen Wurzeln seiner Existenz für immer abzuschneiden.
Wie weit man in der That noch von der Berechtigung entfernt ist, das Uebel des Räuberwesens als mit der Wurzel ausgerottet ansehen zu dürfen, davon zeugt am unzweideutigsten eine Nachricht, welche während der letzten Wochen durch die Zeitungen lief. Darnach sollte in der Provinz Palermo eine neue Räuberbande sich gebildet haben, welche bereits mehrere sogenannte „ricatti“ ausgeführt, und – was im hohen Grade bezeichnend – an der Spitze der Bande soll als Räuberhauptmann ein Wachtmeister der Gensd’armerie stehen, welcher bei Unterdrückung der im Obigen bereits erwähnten Leone’schen Bande sich besonders ausgezeichnet, jetzt aber gleichwohl selbst an die Spitze von Räubern sich gestellt hätte, weil ihm die Regierung die auf Beseitigung des Leone seiner Zeit ausgesetzte Belohnung nur theilweise und unter beträchtlichen, sehr ungerechten Abzügen ausgezahlt habe. Hoffentlich gelingt es der Regierung, dieser neuen verbrecherischen Verbindung auch Meister zu werden; an dem erforderlichen Willen und dem erwünschten Selbstvertrauen scheint es wenigstens nicht zu fehlen, da im Anschluß an jene Nachricht mitgetheilt wird, die Polizei verhindere mit allen Kräften das Zustandebringen von Privatabkommen zwischen den Räubern und den Familien der Entführten – ein Verhalten, aus welchem jedenfalls zu schließen ist, daß die Behörden sich stark genug glauben, die Befreiung der Gefangenen durch Anwendung der gesetzlichen Maßregeln von den Räubern zu erzwingen.
Die Gräfin Selteneck stand ungefähr in dem gleichen Alter wie die Baronin, sah aber bedeutend jünger aus als diese, vielleicht gerade deshalb, weil sie sich nicht so ängstlich Mühe gab, noch die jugendliche Frau herauszukehren. Ohne schön zu sein, fesselte sie doch durch eine angenehme Erscheinung und ein klares bestimmtes Wesen. Beide Damen waren schon in voller Abendtoilette.
„Ich begreife es,“ sagte die Gräfin, „wie sehr Du unter dem Zwange der Verhältnisse im Hause Deines Schwagers leidest, Mathilde, aber was thut man nicht um seines Kindes willen! Gabrielens ganze Zukunft liegt doch nun einmal in seinen Händen, und sie wird als seine Erbin dereinst über ein beinahe fürstliches Vermögen verfügen. Dein Schwager hat Dir doch bestimmte Versprechungen in dieser Hinsicht gegeben?“
„Jawohl,“ versetzte die Baronin. „Es geschah schon bei meiner Ankunft in seinem Hause, aber ich fürchte, dieser unglückselige Zwischenfall mit dem Assessor Winterfeld stellt das alles wieder in Frage.“
„Der Assessor,“ meinte die Gräfin abbrechend, „ist übrigens eine überaus gewinnende Erscheinung. Ich sagte Dir ja, daß ich ihn vor einigen Wochen auf einer Soirée kennen lernte, wo er, die Wahrheit zu sagen, den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses bildete.“
„Der Assessor Winterfeld?“ fragte die Baronin, halb ungläubig, halb verächtlich.
„Allerdings. Er ist ja gewissermaßen eine Berühmtheit geworden und wird im Ministerium außerordentlich protegirt. Man zieht ihn in die besten Kreise und begegnet ihm überall mit Auszeichnung.“
„Aber das ist ja unerhört,“ rief Frau von Harder. „Man ist doch verpflichtet, die Beleidigung des Gouverneurs von R. zu strafen, und kann unmöglich den Beleidiger auszeichnen.“
„Es geschieht aber dennoch – und wie ich fürchte, absichtlich, aus Opposition gegen den Freiherrn. – Ich sehe überhaupt nicht ein, Mathilde, weshalb Dir und Deinem Schwager der Antrag des Assessors so unerhört erschien. Statt ihn abzuweisen und ihn dadurch zu diesem verzweifelten Schritte zu treiben, hättet Ihr ihm Hoffnung geben sollen.“
„Hoffnung geben?“ wiederholte die Baronin. „Ich bitte Dich, Therese – er ist ja bürgerlich.“
„Das ist kein unübersteigliches Hinderniß,“ erklärte die Gräfin, die sich als weltkluge, praktische Frau sehr wenig von Standesvorurtheilen beeinflussen ließ und offenbar ganz von der Persönlichkeit Georg’s eingenommen war. „Wozu giebt es denn Adelsdiplome? Raven war auch bürgerlich, als Deine Schwester sich mit ihm verlobte.“
„Das war ein Ausnahmefall, und Assessor Winterfeld –“
„Wird eine ganz ähnliche Carrière machen. Sieh mich nicht so erstaunt an! Ich spreche nur die allgemeine Annahme aus. Nach jenem allerdings sehr kühnen Schritte, der die Augen des ganzen Landes auf ihn gerichtet hat, darf er nicht mehr fürchten, übersehen zu werden. Hätte er sich nun vollends noch mit einer altaristokratischen Familie, wie es die Deinige ist, verbunden, so fehlte ihm nichts mehr auf dem Wege zu einer Höhe, wie Freiherr von Raven sie erreichte.“
Frau von Harder war sehr nachdenkend geworden. Sie war gewohnt, sich dem Urtheil der ihr geistig überlegenen Freundin unterzuordnen, und nach deren Schilderung erschien ihr Winterfeld in einem ganz anderen Lichte. Es fehlte nicht viel, so regte sich wieder die Vorliebe, die sie im Anfange der Bekanntschaft für Georg hegte.
Der Eintritt des Grafen Selteneck machte dem Gespräch ein Ende. Er wollte die Damen nach der Oper begleiten, hatte aber noch einen Besuch gemacht, von dem er jetzt erst zurückkehrte. Man begrüßte sich und tauschte einige gleichgültige Fragen und Erwiderungen aus. Die Gräfin meinte, daß es nun wohl Zeit sein dürfte, aufzubrechen, und wollte nach dem Wagen klingeln, aber ihr Gemahl hielt sie zurück.
„Einen Augenblick, Therese!“ sagte er leichthin. „Ich möchte vorher noch eine Kleinigkeit mit Dir besprechen. Die Frau Baronin entschuldigt uns wohl auf einige Minuten.“
Die Baronin bat, sich ihretwegen nicht stören zu lassen, und der Graf trat mit seiner Frau in das Nebenzimmer.
„Was ist denn vorgefallen?“ fragte diese unruhig.
„Ich habe Nachrichten erhalten,“ entgegnete der Graf halblaut,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_499.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2016)