verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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Freiherr von Raven allein schien die Abwesenden nicht zu vermissen, wenigstens äußerte er niemals etwas darüber, und man wußte ja auch, daß er jetzt nicht viel Zeit hatte, sich um Familienbeziehungen zu kümmern. Die Umgebung war es gewohnt, ihren Herrn stets ernst, verschlossen und unberührt von äußeren Ereignissen zu sehen, sie sah ihn auch jetzt nicht anders, und doch wußte Jeder, welche Wetterwolke sich über seinem Haupte zusammenzogen. Das war längst kein Geheimniß mehr.
Die Unruhen in der Stadt hatten sich auch im Lauf der nächsten Wochen nicht wiederholt, und der Polizeidirector mit seinen Beamten war vollständig Herr der einzelnen Ausbreitungen geblieben, die noch hin und wieder vorkamen. Die schlimmeren Elemente der Bevölkerung waren eingeschüchtert, die besseren zur Besinnung gekommen. Die letzten Ereignisse hatten Jedem gezeigt, daß es auf diesem Wege nicht weiter gehen konnte und durfte. Der Bürgermeister zumal bot seinen ganzen Einfluß auf, um die Wiederkehr solcher Scenen zu verhindern. Er hatte nicht umsonst die Erfahrung gemacht, daß in dem Conflicte, wo er als erster Gegner dem Freiherrn gegenüberstand, die Zügel seinen Händen entglitten und der Streit durch das Hereindrängen wüster und gefährlicher Elemente in eine förmliche Revolte ausartete. Man hatte allseitig eine Warnung erhalten, und sie hatte gefruchtet. Aufgegeben war der Kampf deswegen freilich noch nicht; er wurde im Gegentheil nur nachdrücklicher, wenn auch ruhiger geführt, und die Stadt R. hatte die Genugthuung, daß er einen Widerhall in der Residenz, ja im ganzen Lande fand. Die Flugschrift Winterfeld’s hatte in der That ein ungeheures Aufsehen erregt und ging in ihrer Wirkung weit über die ursprüngliche Absicht hinaus, denn sie fand in den maßgebenden Kreisen einen Boden, wie es Niemand, am wenigsten der Assessor selbst, vorausgesetzt hatte.
Freiherr von Raven war in jenen Kreisen nichts weniger als beliebt. Ein Mann, der, wie er, sich aus den einfachsten bürgerlichen Verhältnissen zu einem der höchsten Staatsämter emporgeschwungen, mußte naturgemäß den Neid und das Uebelwollen derer wachrufen, die er überholte und so weit hinter sich zurückließ, und sein stolzes, gebieterisches Wesen, die Verachtung, mit der er überall Unfähigkeit oder Erbärmlichkeit bei Seite schob, dienten nicht dazu, ihn beliebter zu machen. Es gab in jenen Kreisen nur Allzuviele, die seine glänzende Laufbahn und die hohe Stellung, welche er gegenwärtig einnahm, als einen Raub an ihren eigenen Standesprivilegien betrachteten, die ihm die Art, wie er den vornehmsten Persönlichkeiten gegenübertrat, nicht verzeihen konnten und nur auf eine Gelegenheit warteten, dem verhaßten Emporkömmling die verdiente Demüthigung zu bereiten. Bisher war das Alles noch unschädlich an dem Freiherrn abgeglitten. Die Regierung stützte ihn mit voller Macht, überhäufte ihn mit Ehren und Auszeichnungen und schwieg zu seinen Uebergriffen, die ihr keineswegs verborgen blieben. Sie bedurfte gerade für den Posten in R. eines Vertreters, der mit so rücksichtsloser Energie und eiserner Consequenz ihre Autorität geltend machte und die gährenden, gefährlichen Elemente der Provinz so unbedingt im Zaume zu halten wußte, wie Raven. Die Unentbehrlichkeit des Gouverneurs überwog all jene Einflüsse, welche sich gegen ihn geltend machten.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Schon seit Jahresfrist war ein Umschwung eingetreten, der für die Stützen der bisherigen Regierung verhängnißvoll zu werden drohte. Ein Theil derselben versuchten einzulenken und der neuen Zeitströmung zu folgen; ein anderer machte sich bereit, mit allen äußeren Ehren von dem Schauplatz abzutreten, auf dem die Rolle vorläufig ausgespielt war. Sie alle hatten Freunde und Verbindungen, die ihnen das ermöglichten – Arno Raven stand völlig allein da, und was er jemals an Haß und Feindschaft wach gerufen, das erhob jetzt drohend gegen ihn das Haupt.
Zu jeder andern Zeit wäre eine Schrift, wie die Winterfeld’s, unterdrückt worden und der Verfasser hätte sie mit dem Verluste seiner Stellung büßen müssen; jetzt bemächtigte man sich mit Eifer dieses Angriffes als einer Waffe gegen den längst Gehaßten, und der junge Beamte, der den willkommenen Anlaß gegeben, wurde förmlich auf den Schild gehoben. Georg’s Name, noch vor Kurzem ganz unbekannt und unbeachtet, war jetzt in Aller Munde; er selbst wurde aufgesucht, bevorzugt und bewundert wegen seines Muthes, das so kühn auszusprechen, was freilich Jeder gewußt hatte. Man fand, daß die Broschüre wahrhaft glänzend geschrieben sei, daß sie eine ungewöhnliche Fülle von Kenntnissen und Fähigkeiten verrathen und ein unbestechlich klares Urtheil voraussetze, und wirklich fehlte der Schrift alles, was sie zum Pamphlet hätte erniedrigen können. Die großen Eigenschaften des Gouverneurs wurden vollständig anerkannt; jedes Persönliche war auf das Strengste vermieden; die ganze Anklage stützte sich nur auf Thatsachen, aber diese Thatsachen wurden mit einer so unerbittlichen Klarheit und Schärfe beleuchtet und einer so vernichtenden Kritik unterzogen, daß eine Antwort darauf nothgedrungen erfolgen mußte.
Für die –sche Provinz und deren Hauptstadt war jene Flugschrift nun vollends, wie der Bürgermeister sich ausdrückte, der „Funke in’s Pulverfaß“ gewesen, denn hier gab sie der allgemeinen Stimmung einen Ausdruck, wie er nicht schärfer und treffender gefunden werden konnte. Die lähmende Furcht und Scheu vor der Allmacht des Gouverneurs war jetzt gebrochen; man sah, daß auch er angreifbar und verwundbar sei, wie andere Sterbliche, und nun brach die langgenährte Erbitterung gegen ihn in einer wahrhaft zügellosen Weise hervor. Niemand dachte mehr daran, was die Stadt und die Provinz trotz alledem der mächtigen Thatkraft des Freiherrn verdankten. Auch nicht eine Stimme erhob sich, die daran erinnerte; der Haß gegen das despotische Regiment, unter dem man so lange geseufzt, hatte jetzt allein das Wort, und wie es gewöhnlich im Leben zu gehen pflegt, waren auch hier diejenigen, welche aus persönlichen Interessen sich bisher zu den Anhängern des Gouverneurs bekannt hatten, die ersten, welche den Stein auf ihn warfen, als dies ungestraft geschehen konnte.
Ein Anderer würde wahrscheinlich gegangen sein und einen Platz verlassen haben, den zu behaupten kaum mehr möglich schien. In der That wurde es dem Freiherrn auch von der Residenz aus nahe gelegt, seine Entlassung zu nehmen, aber sein ganzer Stolz empörte sich dagegen, jetzt zu weichen, wo man ihn zum Weichen zwingen wollte, und vor all den Anklagen und Angriffen, die man gegen ihn schleuderte, die Flucht zu nehmen. Er wußte, daß sein Gehen in einem solchem Augenblicke ein Unterliegen war. Jenen Andeutungen aus der Residenz gegenüber hatte er nur die hochmüthige Antwort, er sei durchaus nicht gesonnen, dauernd zu bleiben, aber erst wolle er den Kampf ausfechten, seine Gegner niederwerfen und ihre Angriffe zum Schweigen bringen, wie damals beim Antritt seines Postens in R., wo sich ein ähnlicher Sturm gegen ihn entfesselte, dann werde er gehe – eher nicht! Vielleicht hätte der Freiherr weniger Starrsinn gezeigt, wenn nicht gerade der erste Angriff, das erste Signal zu dem allgemeinen Ansturm gegen ihn von Georg Winterfeld ausgegangen wäre. Der Gedanke, von dem Manne gestürzt zu werden, den er von allen Mensche am glühendsten haßte, weil er zwischen ihm und Gabriele stand, brachte Raven auf das Aeußerste und raubte ihm sogar seine sonst so klare Urtheilskraft.
Der Ausgang war freilich noch keineswegs entschieden. Noch stand der Freiherr fest und unerschütterlich selbst auf dem wankenden Boden. Er konnte sich darauf berufen, daß Alles, was er gethan hatte, offen vor aller Welt, daß es mit Vollmacht der Regierung geschehen war, und diese scheute sich doch, den Mann, der so lange in ihrem Namen gehandelt hatte, ohne Weiteres fallen zu lassen. Die von Raven so oft verurtheilte Schwäche und Halbheit zeigte sich auch hier. Man hatte den Angriff gegen ihn zugelassen, sogar begünstigt, und als er ihm unerwartet Stand hielt, wagte man es weder den Angegriffenen preiszugeben noch ihn zu stützen.
Jedenfalls nahm die Angelegenheit das allgemeine Interesse so vollständig in Anspruch, daß alles Andere davor in den Hintergrund trat. Dies war auch theilweise mit der Verhaftung des Doctor Brunnow, der sich noch immer im Stadtgefängnisse von R. befand, der Fall, obgleich sie nicht verfehlt hatte, ein peinliches Aufsehen zu erregen. Man wußte ja, daß das Gesetz die Ergreifung des zurückgekehrten Flüchtlings verlangte, aber man fand es trotzdem hart und grausam, daß ein Vater, der an das Krankenbett seines Sohnes geeilt war, das im Kerker büßen sollte, fand es um so härter, als jene Verurtheilung um so viele Jahre zurücklag.
Es war an einem Vormittage zu noch ziemlich früher Stunde, als der Polizeidirector selbst bei dem Verhafteten erschien.
verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1878, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_486.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2016)