Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
ziemlich unwichtigen Vorfällen gesprochen, die sich im Laufe des gestrigen Tages ereignet hatten. Jetzt aber fuhr er fort: „Und nun noch eine Mittheilung, die auch Sie überraschen wird, Excellenz. Sie nehmen ja doch Antheil an dem jungen Doctor Brunnow.“
Raven wurde aufmerksam: „Gewiß, was ist mit ihm?“
„Die Sache betrifft ihn allerdings nicht persönlich, geht ihn aber leider nahe genug an. Sie erinnern sich des Herrn, den uns Hofrath Moser gestern Abend als einen Doctor Franz vorstellte; Sie hatten ja sogar eine längere Unterredung mit ihm. Ist Ihnen dabei nichts aufgefallen?“
Der Freiherr richtete sich schnell empor; die Andeutung genügte, um ihm zu zeigen, daß seine Befürchtungen eingetroffen waren und Brunnow sich in Gefahr befand. Es galt jetzt, Ruhe zu zeigen, um diese Gefahr vielleicht noch abzuwenden. Raven nahm seine ganze Kraft zusammen und antwortete mit einem kalten unbewegten „Nein“.
„Mir desto mehr,“ sagte der Polizeidirector. „Ich hatte schon bei jener flüchtigen Begegnung meine Bedenken, die durch einige unabsichtliche Aeußerungen des Hofrathes zum Verdachte wurden, und hielt es für nöthig, Nachforschungen anzustellen. Jetzt, wo nur wenige Fremde in der Stadt sind, war es eine leichte Mühe, das Absteigequartier des angeblichen Doctor Franz aufzufinden. Er war erst vor zwei Stunden in einem Gasthofe der Vorstadt angelangt, hatte sich in größter Unruhe und Aufregung nach dem jungen Arzte erkundigt und war sofort zu ihm geeilt. Der unvorsichtiger Weise im Gasthofe zurückgelassene Koffer trug die Bezeichnung Z. als Abgangsstation; andere dringende Verdachtsmomente kamen hinzu – kurz es ist kein Zweifel mehr, daß wir es mit dem Vater des Verwundeten, mit Rudolf Brunnow zu thun haben.“
Das alles wurde in demselben ruhigen Geschäftstone berichtet, wie die früheren Mittheilungen, und auch Raven versuchte es, den gleichen Ton festzuhalten, als er erwiderte:
„Das ist vorläufig nur eine Annahme, deren Bestätigung doch erst abgewartet werden muß. Sie können daraus allein nicht gegen den Fremden vorgehen.“
„Die Bestätigung haben wir bereits,“ sagte der Polizeidirector. „Doctor Brunnow hat sich bei seiner Verhaftung zu seinem Namen bekannt.“
„Bei seiner Verhaftung!“ fuhr der Freiherr auf. „Sie haben ihn verhaften lassen? Ohne mich vorher davon zu benachrichtigen, ohne mir auch nur einen Wink zu geben?“
Der Polizeichef sah ihn mit gutgespielter Verwunderung an. „In der That, Excellenz, ich begreife nicht – so viel ich weiß, gehören dergleichen Maßregeln ausschließlich in mein Ressort. Wenn ich jedoch gewußt hätte, daß eine vorherige Mittheilung Ihnen erwünscht, so würde ich sie Ihnen unbedingt haben zugehen lassen.“
Raven drückte krampfhaft den Handschuh zusammen, den er noch in der Rechten hielt. „Und ich würde Ihnen unbedingt von dieser Verhaftung abgerathen haben. Dachten Sie denn gar nicht an das Aufsehen, das sie nothgedrungen erregen muß, an die unausbleiblichen Folgen? Gerade jetzt, wo die Regierung nur auf das Einlenken, nur auf die Versöhnung bedacht ist, wo ihr alles daran liegt, populär zu sein, und sie beinahe ängstlich jedem Conflicte aus dem Wege geht, gerade jetzt ist nicht die Zeit, diese alten, halbvergessenen Erinnerungen an die Revolution so schonungslos wieder an das Tageslicht zu ziehen.“
Der Polizeidirector zuckte die Achseln. „Ich habe meine Pflicht gethan, nichts weiter. Doctor Brunnow war zu langjähriger Festungshaft verurtheilt und hat sich derselben durch die Flucht entzogen. Er weiß, daß er bei seiner Rückkehr dem Gesetze verfällt. Er ist dennoch gekommen und muß die Folgen tragen.“
„Ich dächte, Sie wären lange genug im Amte, um zu wissen, wie oft der Buchstabe des Gesetzes der Nothwendigkeit des Augenblickes geopfert wird,“ sagte Raven mit steigender Heftigkeit. „Weshalb ist der Flüchtling denn zurückgekehrt? Die öffentliche Stimme wird in der entschiedensten Weise Partei nehmen für den Mann, der in der Todesangst um das Leben seines einzigen Sohnes, in der Hoffnung, ihn durch seine ärztliche Kunst vielleicht noch zu retten, der eigenen Gefahr trotzte. Brunnow wird zum Märtyrer, dem die Sympathie des ganzen Landes gewiß ist. Glauben Sie, daß uns dergleichen erwünscht ist? Sie handelten auf einen rein persönlichen Verdacht hin. Sie werden sich wenig Dank damit in der Residenz verdienen.“
Die Heftigkeit dieser Worte ließ sie fast beleidigend erscheinen, aber der Polizeidirector entgegnete ruhig und artig:
„Das müssen wir abwarten. Ich habe nach bestem Ermessen gehandelt und bedauere nur, daß meine Maßregel so wenig Beifall findet. Auf eine Mißbilligung Ihrerseits war ich am wenigsten gefaßt, denn gerade Sie, Excellenz, haben jene Zurückhaltung von Seiten der Regierung, jene Scheu vor Conflicten von jeher als Schwäche verurtheilt und zeigen es jetzt eben wieder der Stadt gegenüber, daß Sie nur von einem rücksichtslosen und energischen Vorgehen Erfolg erwarten.“
Der Freiherr biß sich auf die Lippen. Er fühlte, daß er sich allzu weit habe fortreißen lassen, und fragte abbrechend: „Doctor Brunnow hat sich also zu seinem Namen bekannt?“
„Ja. Er war allerdings sehr bestürzt, als man ihm die Verhaftung ankündigte, faßte sich aber sofort wieder und leugnete nichts ab. Es wäre in diesem Falle auch nutzlos gewesen. Ich habe dafür gesorgt, daß sein Sohn für’s Erste noch nichts von dem Vorfalle erfährt, wenigstens hat mir Hofrath Moser versprochen, zu schweigen. Der arme Hofrath! Er bekam beinahe einen Ohnmachtsanfall, als ich ihm entdeckte, wer der vorgebliche Doctor Franz sei. Er, der so ängstlich jede illoyale Berührung vermied, wird nun ganz ohne sein Verschulden in solche Beziehungen förmlich hineingerissen.“
„Ich hoffe wenigstens, daß Sie Ihrem Gefangenen die möglichste Rücksicht angedeihen lassen,“ sagte Raven, ohne auf die letzten Worte zu achten. „Die Veranlassung zu seiner Rückkehr und die Aufopferung seines Sohnes für Ihre Beamten geben ihm den vollsten Anspruch darauf.“
„Ohne Zweifel,“ stimmte der Polizeidirector bei. „Doctor Brunnow wird sich über nichts zu beklagen habe. Er ist vorläufig in einem Zimmer des Stadtgefängnisses, und ich habe auch die Vorkehrungen zu seiner Bewachung mit der größten Schonung getroffen. Streng muß diese Bewachung allerdings sein; es könnte sonst eine nochmalige Flucht oder – Befreiung versucht werden.“
Raven’s Auge heftete sich voll und finster auf das Gesicht seines Begleiters. Der leise Hohn, der um dessen Lippen spielte, sagte dem Freiherrn, daß seine Beziehungen zu dem ehemaligen Jugendfreunde kein Geheimniß mehr seien, und daß der Schlag nicht gegen Brunnow, sondern gegen ihn selber geführt wurde. Zu welchem Zwecke, das errieth er im Augenblicke noch nicht, aber der Polizeidirector war nicht der Mann, der sich einer Uebereilung schuldig machte oder Dinge unternahm, die ihm eine ernste Verantwortlichkeit auferlegten. Er wußte immer, was er that.
„Flucht! Befreiung!“ wiederholte Raven mit Bitterkeit. „Dafür möchte es wohl zu spät sein.“
„Ich hoffe das auch, will aber doch nicht die nöthige Vorsicht versäumen. Man kann nie wissen, wie weit die Verbindungen dieser Flüchtlinge reichen. – Das waren die Mittheilungen, um deren willen ich Sie aufsuchen wollte. Jetzt möchte ich Sie nicht länger in Anspruch nehmen. Wir kommen sogleich an meinem Bureau vorüber – darf ich bitten, dort anhalten zu lassen? Es wartet wahrscheinlich wieder eine ganze Fluth von Geschäften auf mich.“
Nach kaum zehn Minuten hielt der Wagen vor dem Polizeibureau, und der Chef desselben verabschiedete sich in verbindlichster Weise von dem Freiherrn, der nach dem Schlosse weiterfuhr. Endlich waren ihm einige Minuten des Alleinseins vergönnt. Seit heute Morgen traf ihn Schlag auf Schlag. Erst der Brief des Ministers, dann die Eröffnung des Oberst Wilten, endlich die Nachricht von der Verhaftung Brunnow’s. Die drohenden Anzeichen mehrten sich, und Rudolph’s Prophezeiung war vielleicht ihrer Erfüllung näher, als er selbst glaubte. Der Boden unter dem Mächtigen begann zu wanken und zu weichen, und zum ersten Male blickte er von seiner schwindelnden Höhe nieder mit dem Gedanken, wie tief wohl der Sturz sein könne. Aber Arno Raven erbleichte nicht vor solchen Gedanken. Der stolze, energische Trotz in seinen Zügen zeigte, daß er nicht gesonnen war, der drohenden Gefahr auch nur einen Schritt zu weichen. Wenn sie auch jetzt von allen Seiten gegen ihn heranzog, er wollte nicht unterliegen, und mit diesem unbeugsamen Willen, dessen Macht sich so oft schon bewährt hatte, trat er auch jetzt dem Sturme entgegen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_467.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2016)