Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1878) 423.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sie nicht hören – gut, wir sind fertig damit. Was nachher geschehen ist, das war meine eigene Wahl und mein Entschluß. Wie ich dazu getrieben worden bin, das kommt hier nicht in Betracht. Ich verlange keine Milderungsgründe; genug, es war mein Wille, und ich nehme die That und all ihre Folgen auf mein Haupt allein. Seit dem Tage, der jene Kluft zwischen uns aufriß, sind unsere Wege so endlos weit aus einandergegangen, daß wir jetzt vergebens versuchen würden, sie auch nur zu begreifen. Was ist einem Idealisten wie Dir der Begriff der Macht und des Ehrgeizes? Vielleicht nur der Keim zu einem Verbrechen, denn er begründet sich ja aus die Unterdrückung Anderer. Ich war nun einmal nicht geschaffen, im Exil zu verkümmern und nach über all die gescheiterten Hoffnungen, über all die nutzlos vergeudeten Kräfte mit dem Gedanken zu trösten, daß ich meinem ‚Ideal‘ treu geblieben sei. Verdamme mich, wenn Du willst! Als meinen Richter erkenne ich auch Dich nicht an.“

Es erfolgte keine Erwiderung. Nach einem secundenlangen Schweigen wandte sich Brunnow ohne alle Antwort zum Gehen. Raven trat ihm in den Weg.

„Was soll das?“ fragte der Arzt. „Du hast es ja ausgesprochen; wir sind fertig mit einander, und jedes fernere Wort zwischen uns ist überflüssig. Laß mich gehen!“

„Noch nicht – es handelt sich um Deine Sicherheit. Du reisest doch auf der Stelle wieder ab?“

„Ich reise erst morgen; ich habe es meinem Sohne versprochen, ihn noch einmal zu sehen.“

„Das ist eine ganz unnöthige Verzögerung,“ sagte der Freiherr. „Du hast Dich selbst überzeugt, daß für Deinen Sohn nichts zu fürchten ist, und erst jenseits der Grenze hört die Gefahr für Dich auf. Um Mitternacht geht der Courierzug. Bleibe so lange hier in meiner Wohnung und fahre dann in meinen Wagen nach dem Bahnhofe! Was man dann auch ahnen und vermuthen mag, es wird Niemand wagen, Dich zu behelligen.“

„Und wenn man später entdecken sollte, daß der Gouverneur selbst dem ‚Hochverräter‘ fortgeholfen hat?“

„Das ist meine Sache. Ich werde es vertreten.“

„Ich danke,“ sagte Brunnow in schneidendem Tone. „Ich bleibe bis morgen und gehe nach dem Bahnhofe, ohne mich durch die freiherrlich Raven’sche Livree decken zu lassen. Du wirst begreifen, daß ich selbst eine mögliche Gefahr Deinem Schutze vorziehe.“

„Rudolph, nimm Vernunft an!“ mahnte der Freiherr. „Der unselige Starrsinn kann Dir Deine Freiheit kosten.“

„Was kümmert das Dich? Wir sind ja Feinde und sind es nach dieser Stunde mehr denn je. Wir werden uns schwerlich im Leben wieder begegnen, aber denke an meine Worte, Arno! Noch stehst Du fest und sicher auf Deiner schwindelnden Höhe; noch blickst Du verächtlich herab auf die Gefahren, die Dir drohen. Es wird ein Tag kommen, wo Alles um Dich her wankt und bricht, wo Alles Dich verläßt, und dann“ – hier richtete sich auch die gebeugte Gestalt Brunnow’s voll und mächtig auf – „dann wirst Du einsehen, daß es doch noch etwas werth ist, an seine Ideale und an sich selber zu glauben. Mich hat dieses Bewußtsein aufrecht erhalten bis auf diese Stunde. Du hast keinen Halt mehr, wenn das glänzende Gebäude Deines Ehrgeizes zusammenstürzt – Du hast Dich selbst verloren. Leb’ wohl.“

Er ging. Raven blickte ihm düster und unbeweglich nach. „Mich selbst verloren!“ wiederholte er dumpf. „Er hat Recht.“




In der Stadt war es ruhig. Die „energischen Maßregeln“ hatten ihre Wirkung gethan, wenn sie auch nicht in dem Umfange zur Ausführung gekommen waren, wie es anfangs den Anschein hatte. Oberst Wilten, der sehr wohl wußte, daß trotz aller Vertretung von Seiten des Gouverneurs doch ein Theil der Verantwortlichkeit auf ihm haften bleiben werde, hatte an jenem Abende Befehl gegeben, beim ersten Commando nicht auf die Menge selbst, sondern in die Luft zu feuern. Er rechnete auf den blinden Schrecken, den man empfinden werde, wenn man sah, daß wirklich von den Waffen Gebrauch gemacht werde, und diese Berechnung täuschte ihn nicht. Die Schüsse riefen eine ganz grenzenlose Angst und Verwirrung hervor, die noch durch die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit begünstigt wurde. Niemand hatte Ruhe und Besonnenheit genug, sich zu überzeugen, wer denn eigentlich gefallen sei. Es erhob sich ein wildes Getümmel, aber der gefürchtete Widerstand blieb aus, und nach einem kurzen, planlosen Hin- und Herwogen wandte sich Alles zur Flucht. Der Oberst hatte das vorhergesehen und seine Anstalten derartig getroffen, daß den Fliehenden im entscheidenden Augenblick Raum gegeben werden konnte. Es gelang einer Militärabtheilung ohne allzugroße Schwierigkeit die dichtgedrängte Menge zu zerstreuen und vor sich herzutreiben. Einmal zersprengt, vermochte diese sich nicht wieder zu sammeln, da die sämmtlichen Hauptpunkte besetzt waren. Nach einigen Stunden war die Ruhe wieder hergestellt und zwar – dank der Vorsicht und Mäßigung des Commandirenden – ohne eigentliches Blutvergießen. Es hatte zwar im Getümmel selbst Verwundungen und Verletzungen genug gegeben, aber es war doch nicht zum wirklichen Kampfe gekommen, und jedenfalls hatte das Einschreiten des Militärs seine Wirkung gethan. Die unruhigen Elemente der Stadt waren vollständig eingeschüchtert; die Excesse wiederholten sich nicht, und während der folgenden Tage wurde die Ruhe nirgends gestört. Man schien der Gewalt zu weichen; der Gouverneur hatte wieder einmal die Oberhand behalten. –

Es war am Morgen nach jener Unterredung mit Rudolph Brunnow, als der Freiherr in das Zimmer seiner Schwägerin trat. Bei der Baronin hatte jene Erkältung doch ernstere Folgen gehabt; sie war krank, oder behauptete wenigstens, es zu sein, und hatte seit ihrer Rückkehr nach der Stadt kaum das Bett verlassen. Der Freiherr sandte jeden Morgen herüber, um sich nach ihrem Befinden erkundigen zu lassen; er selbst hatte weder sie noch Gabriele seit den letzten Tagen gesehen, da das junge Mädchen die Krankheit der Mutter zum Vorwande nahm, um nicht bei Tische zu erscheinen. So war denn eine Begegnung zwischen ihnen seit jener stürmischer Unterredung noch vermieden worden.

Die Baronin lag mit sehr leidender Miene auf dem Sopha, als ihr Schwager eintrat. Er schien Gabriele, die sich gleichfalls im Zimmer befand, nicht zu bemerken, sondern trat sofort zu ihrer Mutter und fragte in jenem gleichgültigen Tone, mit dem man einer bloßen Form genügt, wie sie sich befinde.

„O, ich habe schlimme Tage verlebt,“ seufzte die Baronin. „Ich befinde mich sehr schlecht, und die Angst und Aufregung an jenem entsetzlichen Abende, wo man das Schloß stürmen wollte, hat mich vollends krank gemacht.“

„Ich ließ Ihnen ja eigens melden, daß alle Maßregeln zur Sicherheit des Schlosses getroffen seien,“ sagte Raven ungeduldig. „Sie wären überhaupt niemals in Gefahr gekommen; die ganze stürmische Demonstration galt mir allein.“

„Aber der Lärm, das Anrücken des Militärs, das Schießen in der Stadt!“ klagte die Dame, „das alles regte meine Nerven furchtbar auf. Hätte ich doch dem Wunsche des Oberst Wilten nachgegeben und wäre noch einige Tage auf seinem Landsitze geblieben! Freilich, wie die Dinge jetzt stehen, konnte ich nicht daran denken. Gabriele martert mich förmlich mit ihrem Trotz und Eigensinn. Sie erklärt auf das Bestimmteste, daß sie niemals dem jungen Baron Wilten ihre Hand reichen werde, und droht mir, ihm ein unverhülltes Nein zu geben, wenn ich es bis zu einem Antrage kommen lasse.“

Raven’s Blick streifte das junge Mädchen, das stumm und bleich, den Kopf in die Hand gestützt, in einiger Entfernung saß, er richtete aber auch jetzt nicht das Wort an sie.

„Ich bin in der grenzenlosesten Verlegenheit,“ fuhr die Baronin fort. „Ich habe dem Oberst ganz bestimmte Zusicherungen gegeben, die unmöglich zurückgenommen werden können. Er und sein Sohn werden außer sich sein. Gabriele behauptet, bereits mit Ihnen darüber gesprochen zu haben, Arno. Sind Sie denn wirklich mit diesem Nein einverstanden?“

„Ich?“ fragte der Freiherr kalt. „Ich habe mich jedes Einflusses auf Ihre Tochter begeben.“

„Mein Gott, was ist denn vorgefallen?“ fragte die Baronin, sich erschrocken aufrichtend. „Hat Gabriele auch Ihnen gegenüber ihren Starrsinn gezeigt? Ich will doch nicht hoffen –“

„Lassen wir das!“ schnitt ihr der Freiherr das Wort ab. „Die Angelegenheit mit Wilten muß ich allerdings erledigen, schon wegen meiner eigenen Stellung zu dem Oberst. Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich seinen Sohn der Kränkung aussetzte, ein Nein zu erhalten, wo er mit Sicherheit auf ein Ja rechnet. Uebrigens ist das Ihre Schuld allein, Mathilde. Sie

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_423.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)