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Seite:Die Gartenlaube (1878) 358.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


„Welcher Schlag?“ fragte der Oberst.

„Sie kennen noch nicht die Neuigkeit aus der Residenz?“

„Nein, Sie wissen ja, daß ich erst seit einigen Stunden hier bin.“

Raven erhob sich und durchmaß mit raschen Schritten das Zimmer. Als er zurückkehrte und vor dem Obersten stehen blieb, sah man es doch, wie die Aufregung in ihm wühlte, trotz all seiner Anstrengung, sie niederzuhalten.

„So empfehle ich Ihnen, die Flugschrift des Assessors Winterfeld zu lesen,“ sagte er in einem Tone, der sarkastisch sein sollte, aber auf’s Aeußerste gereizt klang. „Er fühlt sich berufen, mich vor dem ganzen Lande als einen Despoten hinzustellen, der weder nach Recht noch nach Gesetzen fragt und der für die ihm anvertraute Provinz ein Unglück und ein Unheil geworden ist. Es ist ein ganzes Sündenregister, was mir da vorgehalten wird. Uebergriffe, Willkür, Gewaltacte und wie die Schlagworte alle heißen. Es lohnt wirklich der Mühe, das Machwerk zu lesen, und wäre es auch nur, um sich drüber zu wundern, was einer meiner jüngsten und untergeordneten Beamten sich gegen seinen früheren Chef herausnimmt. Bis jetzt haben nur einige Wenige die Broschüre in Händen; morgen wird die ganze Stadt sie kennen.“

„Aber mein Gott, warum lassen Sie das denn so ruhig geschehen?“ rief der Oberst. „Dergleichen kann doch nicht plötzlich ohne jede Vorbereitung auftauchen, Sie müssen doch Nachrichten darüber erhalten haben.“

„Gewiß, ich erhielt sie gestern Abend, ungefähr zu derselben Zeit, wo die Residenz bereits mit der Broschüre überschwemmt wurde und diese auf dem Wege hierher war. Der Courier überbrachte mir zugleich das ‚aufrichtige Bedauern‘ des Ministers, daß man die Verbreitung nicht habe verhindern können, daß die Sache überhaupt nicht mehr zu unterdrücken sei.“

„Das ist seltsam,“ sagte Wilten befremdet.

„Mehr als seltsam. Man pflegt sonst in der Residenz sehr genau unterrichtet zu sein über Alles, was die Presse verläßt, und läßt nicht leicht etwas in die Welt hinaus, was gefährlich werden könnte. Bei dieser Schrift vollends wäre es ein Leichtes gewesen, die gegen mich geschleuderten Beleidigungen auf die Regierung selbst zu übertragen und darauf hin das Ganze zu unterdrücken. Es scheint aber, man hat das diesmal nicht gewollt, und da man mein energisches Dringen fürchtete, so zog man es vor, mich in vollständiger Unwissenheit zu lassen, und gab mir erst im letzten Augenblicke Nachricht als es zu spät war.“


(Fortsetzung folgt.)




Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
1. Voltaire.

In einer Mainacht des Jahres 1814, kurz nach der Rückkehr des bourbonischen Ludwig des Achtzehnten, fuhr an der schönen und geschichtlich denkwürdigen Genoveva-Kirche in Paris ein geschlossener Wagen vor, aus dem zwei Männer stiegen. Bei ihrer Ankunft öffnete sich leise eine Thür der Kirche; sie traten ein, kehrten aber schon nach kurzer Zeit mit einem gefüllten Leinwandsack zurück, den sie vor sich in den Wagen legten, welcher hierauf eilig mit ihnen davon jagte. Die Straßen waren um diese Stunde schon ziemlich verödet, Paris lag bereits im Schlummer, oder hing im Innern der Häuser seinen nächtlichen Zerstreuungen nach, die stumm und in scheuer Hast sich abspielende Scene auf dem Genoveva-Platze war unbemerkt geblieben. Der Wagen fuhr nach einem wüsten Abladeplatz bei Berey, wo fünf Männer seiner harrten, die schweigend eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Grube umstanden. In diese wurde sofort der unheimlich durch einander klappernde Inhalt des Sackes ausgeschüttet und hier schnell von der Zerstörungskraft des Kalks verschlungen, während der eine von den zwei aus Paris gekommenen Männern die Ceremonie mit einem herzhaften Fluche beschloß. Dann schaufelte man sorgfältig die Erde wieder zu, und nur ein Eingeweihter hätte am nächsten Morgen die Stelle des Bodens bezeichnen können, auf welcher eine schnöde Unthat sich vollzogen hatte. Die Geschichte der Menschheit aber hat alle Ursache, den Vorgang dieser Frühlingsnacht mit unauslöschlichen Zügen in ihr Erinnerungsbuch zu schreiben. Denn es handelte sich dabei nicht um einen Exceß gewöhnlicher Privatleidenschaft, sondern um einen berechneten Handstreich roher Feindseligkeit gegen pietätsvolle Empfindungen der gesammten civilisirten Menschheit, es war an stolz gehüteten Heiligthümern des französischen Nationalgeistes eine verbrecherische Schändung verübt, es waren die Spuren denkwürdiger Geisteshelden, die Gebeine eines Voltaire, eines Rousseau aus ihrer Ruhe gerissen und in dieser beschimpfenden Weise vernichtet worden.

Als im dritten Jahre der großen Revolution (1791) die Genoveva-Kirche in ein nationales Pantheon verwandelt worden war, hatte man die Ueberreste jener unvergeßlichen Lehrer der Freiheit und des Volksrechts aus ihren Gräbern geholt und auf Beschluß der Volksvertretung unter der begeisterungsvollen Theilnahme des Volkes in dem neu errichteten Mausoleum beigesetzt. Napoleon der Erste hatte zwar nach dem Concordat mit dem Papste das Gebäude dem römischen Cultus zurückgegeben, aber niemals, weder in jenen Tagen noch später, hätte die Geistlichkeit es wagen dürfen, vor den Augen Frankreichs ihre Hand an die Denkmäler oder gar an die Asche der hier für ewige Zeiten bestatteten Lichtverkünder zu legen. Was sie aber unzweifelhaft längst gewünscht hatte und öffentlich nicht unternehmen konnte, das ließ sie nun heimlich und unter dem Schleier der Nacht von gedungenen oder fanatisirten Menschen vollführen, als ihr Uebermuth nach der Wiederkehr der Bourbonen wieder einmal siegrech emporzuschwellen begann. Oder sollte Jemand im Ernste glauben, daß jene beiden Männer - wie man jetzt weiß, waren es zwei Brüder Namens Puxmorin - aus eigenem Antriebe den Plan des Wagstückes ersonnen, daß sie ohne priesterliche Erlaubniß und Mitwirkung den Diebstahl an einem Eigenthum der Kirche hätten begehen können?

Eine dunkle Kunde von dem Attentat war freilich auf unbekannten Wegen in weitere Kreise der Bevölkerung gedrungen, aber Niemand konnte so recht an das Unerhörte glauben, bis endlich Louis Napoleon sich Klarheit in dem Punkte verschaffen wollte und die Gräber öffnen ließ. Man fand sie in der That gänzlich ausgeräumt, und eine Untersuchung stellte dann weiter den oben erzählten Hergang an’s Licht. Gewiß, die Kirchen- und Ketzerhistorie, das große Schuldregister eines erbarmmugslosen Zelotismus, hat viel gräßlichere Handlungen aufzuweisen, vielleicht aber keine, die so nichtswürdig boshaft, so heimtückisch und dabei zugleich so feige gewesen wäre, wie dieser nächtliche Knochenraub in unserem 19. Jahrhundert. Und warum sollte diesen ohnmächtigen Resten hervorragender Denker eine so arge Schmach bereitet werden? Doch offenbar nur, um damit die Gedankenmacht zu schlagen, welche einst von diesen Männern ausgegangen war. Hier lag das Kindische des ganzen Beginnens. Denn die Gedanken Voltaire’s und Rousseau’s hatten weder unter den korinthischen Säulen der Genoveva-Kirche geruht, noch waren sie in die Kalkgrube bei Bery geworfen worden. Von den Werken ihrer Erzeuger aus hatten sie längst als ein warmer Verjüngungshauch sich in alle Lande ergossen, als ein färbendes und treibendes Element sich mit dem Safte aller Culturströmungen vermischt und gewaltige Umwälzungen, untilgbare Veränderungen herbeiführen helfen, nicht blos in den Staatsverhältnissen, sondern auch in den Köpfen und Herzen, dem täglichen Verkehr und Leben der Völker. Wer die Entwickelung der Zeitgeschichte seit dem elenden Ereigniß in jener Mainacht von 1814 kennt, der weiß auch, wie gänzlich gleichgültig dasselbe dem weiteren Aufstreben des Fortschrittsgeistes geblieben ist.

Auch in Frankreich selber hat er immer wieder siegreich aus den herabdrückendsten Umgarnungen clericaler Herrschaft sich losgerungen und dann auch immer seines Ursprunges so dankbar sich erinnert, wie es wiederum in diesem Augenblicke geschieht, wo dort in Stadt und Land der hundertjährige Todestag Voltaire’s zu einem überwältigenden Ausdruck des Volkswillens gegen die Feinde dieses Namens erhoben und als ein großartiges Sieges- und Auferstehnungsfest der freisinnigen Grundsätze begangen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_358.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2019)