Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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„Und das hat ein Beamter gethan, der in meiner Kanzlei, unter meinen Augen arbeitete,“ rief der Hofrath verzweiflungsvoll. Aber er ist verführt, mißleitet worden. Ich habe es ihm immer gesagt, daß die Verbindung mit der schweizer Demagogengesellschaft ihn in’s Verderben bringen werde. Ich weiß, wer hinter der ganzen Sache steckt, wer allein die Schuld daran trägt – jener Doctor Brunnow, der unter dem Vorwande einer Erbschaftsangelegenheit sich nun schon wochenlang hier aufhält und noch immer nicht abreisen will.“
„Weil man ihm endlose Schwierigkeiten und Weitläufigkeiten bei der Erhebung seiner Erbschaft macht. Die Herren vom Gericht lassen es ihn wirklich mehr als nöthig entgelten, daß er der Sohn seines Vaters und in diesem Falle sein Vertreter ist; dafür ist er ihnen aber auch kürzlich in einer so drastischen Weise zu Leibe gegangen, daß sie ganz verblüfft waren und jetzt wirklich Miene machen, die Sache zu beeilen. Sie haben ein Vorurtheil gegen den jungen Arzt, Herr Hofrath. Er ist wirklich nicht so schlimm, wie Sie glauben.“
„Dieser Brunnow ist sehr schlimm,“ sagte der Hofrath, bei dem jetzt wieder die gewohnte Feierlichkeit zum Durchbruche kam. „Ich wußte es vom ersten Tage an, wo ich ihn sah, und ich habe einen untrüglichen Scharfblick in solchen Dingen. Seit er hier ist, haben wir die Unruhen in der Stadt, die offene Auflehnung gegen die Behörden und jetzt wieder dieses gedruckte Attentat gegen Seine Excellenz. Ich bleibe dabei, dieser Mensch ist nach R. gekommen, nur um von hier aus die Stadt, die Provinz, ja das ganze Land in Aufruhr zu versetzen.“
„Warum nicht lieber ganz Europa!“ rief der Polizeidirector ärgerlich. „Sie täuschen sich vollständig. Man hat den jungen Mann schon seines Namens wegen nicht aus den Augen gelassen, aber ich versichere Ihnen, daß er auch nicht den geringsten Anlaß zu solchen Vermuthungen giebt. Er hat weder politische Beziehungen angeknüpft, noch sich direct oder indirect an den Unruhen betheiligt und geht einzig und allein seinen Privatangelegenheiten nach. Wenn ich als Polizeichef ihm ein solches Zeugniß ausstelle, so können Sie mir wohl Glauben schenken.“
„Er ist aber der Sohn eines alten Revolutionärs,“ beharrte der Hofrath, „und der intime Freund des Assessor Winterfeld.“
„Das ist kein Beweis für seine Staatsgefährlichkeit. Sein Vater war auch einst der intimste Freund des Gouverneurs.“
„Wa– was?“ rief Moser zurückprallend. „Excellenz von Raven und jener Rudolph Brunnow –“
„Waren Universitäts- und Jugendfreunde, sehr innige sogar; ich weiß das aus sicherster Quelle. Hoffentlich werden Sie den Freiherrn von Raven nicht demagogischer Neigungen beschuldigen. Aber meine Zeit ist gemessen. Adieu, Herr Hofrath!“
Damit ließ der Polizeidirector den ganz verblüfften Hofrath stehen und verließ das Regierungsgebäude. – Auf dem Rückwege nach der Stadt traf er mit dem Bürgermeister zusammen.
„Sie kommen aus dem Schlosse?“ fragte dieser. „Sie waren bei dem Gouverneur? Was hat er beschlossen?“
Der Gefragte zuckte die Achseln. „Was er bereits gestern drohte – das unnachsichtlichste Vorgehen. Sobald sich die Unruhen wiederholen, greift das Militär ein. Die Vorbereitungen dazu werden soeben getroffen. Gerade als ich ging, kam Oberst Wilten an, um persönliche Rücksprache zu nehmen, und das Resultat der Conferenz kann nicht zweifelhaft sein. Sie kennen den Freiherrn, er schreckt vor keinem Gewaltschritt zurück, wenn es gilt, seinen Willen durchzusetzen.“
„Das darf nicht sein,“ sagte der Bürgermeister unruhig. „Die Erbitterung ist zu groß, als daß das Ausrücken des Militärs eine bloße Demonstration bleiben könnte. Es kommt zum Widerstande, zum Blutvergießen. Ich hatte mir freilich vorgenommen, das Schloß nicht wieder zu betreten, wenn mich nicht die Nothwendigkeit dazu zwänge, jetzt aber möchte ich doch noch einen letzten Versuch machen, um das Aeußerste zu verhüten.“
„Unterlassen Sie das lieber!“ rieth der Polizeidirector. „Ich kann es Ihnen vorhersagen, daß Sie nichts erreichen. Der Freiherr ist heut nicht zur Nachgiebigkeit gestimmt; er hat Nachrichten erhalten, die ihm die Laune auf Wochen hinaus verderben werden.“
„Ich weiß,“ fiel der Andere ein. „Die Schrift des Assessor Winterfeld. Ich erhielt sie heut Morgen aus der Residenz.“
„Also auch Sie haben schon Kenntniß davon? Nun, die Anstalten für die Verbreitung scheinen ja vorzüglich getroffen worden zu sein. Man scheint eine Unterdrückung zu fürchten und sich zu beeilen zuvorzukommen. Ich glaube aber, daß das eine unnöthige Besorgniß ist; es sieht aus, als wäre man in der Residenz gewillt, der Sache ihren Lauf zu lassen.“
„Wirklich? Und was sagt Raven selbst dazu? Ihm kam sie doch schwerlich so ganz unerwartet; er muß doch vorher irgend einen Wink erhalten haben.“
„Ich fürchte, er hat ihn nicht erhalten; sein ganzes Wesen verrieth, daß die Sache ihn überrascht hat. Er hüllte sich zwar in seine gewohnte Unzugänglichkeit, konnte es aber doch nicht ganz verbergen, wie furchtbar gereizt und erregt er war. Meine Andeutungen über diesen Punkt wurden mit einer Schroffheit aufgenommen, daß ich es für besser hielt, ihn fallen zu lassen. – Der Angriff ist freilich unerhört und dabei grenzenlos unvorsichtig. So etwas, wenn es denn durchaus unter die Leute soll, schickt man doch anonym in die Welt hinaus, man läßt wenigstens den ersten Sturm austoben, ehe man sich nennt, läßt sich suchen und errathen und tritt erst im äußersten Nothfall aus seiner Verborgenheit hervor – der Assessor unterzeichnet sich mit seinem vollen Namen und läßt die Welt und den Gouverneur auch nicht einen Augenblick in Zweifel darüber, wer der Angreifer ist. Ich begreife nicht, wo er den Muth hergenommen hat, seinem ehemaligen Chef in solcher Weise gegenüberzutreten. Er wirft ihm ja vor dem ganzen Lande den Handschuh hin; die Schrift ist eine einzige Anklage von Anfang bis zu Ende.“
„Und eine einzige Wahrheit von Anfang bis zu Ende,“ fiel der Bürgermeister ein. „Der junge Mann beschämt uns Alle. Was er jetzt wagt, das mußte längst gewagt und gethan werden. Wenn der Widerstand einer ganzen Stadt, wenn alle Vorstellungen bei der Regierung vergebens bleiben, muß der Streit vor das Forum des Landes gebracht und dort entschieden werden. Winterfeld hat das mit klarem Blicke erkannt und muthig das erste Wort gesprochen. Jetzt, wo die Bahn einmal gebrochen ist, wird ihm Alles folgen.“
„Er setzt aber dabei sich und seine ganze Existenz auf’s Spiel,“ warf der Polizeidirector ein. „Seine Schrift wagt zu viel, und so glänzend sie auch geschrieben ist, sie wird dem Verfasser theuer zu stehen kommen. Raven ist wahrlich nicht der Mann, der sich ungestraft beleidigen und angreifen läßt. Der kecke Herausforderer kann das Opfer seiner Verwegenheit werden.“
„Oder er bringt endlich einmal die Allmacht des Gouverneurs zum Scheitern. Aber wie die Sache auch enden mag, sie wird jedenfalls ungeheures Aufsehen erregen und hier in R. ist sie nun vollends der Funke im Pulverfaß.“
„Das fürchte ich auch,“ stimmte der Polizeichef bei. „Es läßt sich begreifen, daß der Freiherr jetzt Alles daran setzt, um der Situation Herr zu bleiben. Nun, was er auch thun mag, er thut es auf seine Gefahr.“ –
Während die beiden Herren ihren Weg fortsetzten, hatte im Arbeitszimmer des Gouverneurs in der That die erwähnte Conferenz zwischen diesem und dem Oberst Wilten stattgefunden. Der Inhalt des Gesprächs mußte wohl von ernster Natur gewesen sein, denn auch der Oberst sah sehr ernst aus. Raven war dem äußeren Anscheine nach unbewegt, nur die fahle Blässe, die auf seinem Antlitze lag, und die tiefgefurchte Stirn verriethen, daß irgend etwas Außergewöhnliches ihn berührt hatte; er beherrschte Haltung und Sprache, wie immer.
„Es bleibt dabei,“ sagte er. „Sie halten das Militär verfügbar zum sofortigen Eingreifen und gehen schonungslos vor, sobald man Ihnen Widerstand entgegensetzt. Ich nehme die Verantwortung und alle etwaigen Folgen auf mich allein.“
„Wenn es sein muß – allerdings,“ entgegnete der Oberst zögernd. „Sie kennen meine Bedenken, und ich verhehle Ihnen nicht, daß ich mich eintretenden Falles mit Ihrer Verantwortung decken werde.“
„Ich vertrete die Maßregel in ihrem ganzen Umfange. Dieses rebellische R. soll und muß gebändigt werden um jeden Preis. Ich habe jetzt mehr als je Grund, meine unbedingte Autorität aufrecht zu erhalten; man soll nicht glauben, daß sie unter dem heimtückischen Schlage wankt, der gegen mich geführt wird.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_357.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)