Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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Raven lehnte sich in den Sitz zurück, und das frühere Schweigen trat wieder ein. Auch Gabriele schmiegte sich fester in die Wagenecke; sie, die es sonst nicht vermocht hatte, auch nur eine Viertelstunde zu fahren, ohne sich in allen möglichen Plaudereien zu ergehen, zeigte jetzt nicht die mindeste Neigung, das Gespräch wieder anzuknüpfen. Es war eine mächtige und tiefgreifende Veränderung mit ihr vorgegangen, die nicht erst von der Entfernung Georg’s datirte; schon früher, viel früher war jenes räthselhafte Etwas aufgewacht, gegen das sie vom ersten Augenblicke an gekämpft und das sie so lange für Furcht und Scheu gehalten hatte. Es hatte ja so gar nichts gemein mit jener frohen, beglückenden Empfindung, die wie Sonnenschein durch die Seele des jungen Mädchens floß, als Georg ihr seine Liebe gestand, als er mit der ganzen Innigkeit seines Wesens um ihre Gegenliebe bat und sie lächelnd und erröthend das ersehnte Ja aussprach. Sie rief oft genug das Andenken an jene Stunde zurück, wie man eine schützende Macht anruft, aber oft vergeblich. Es wich in solchen Momenten das Bild Georg’s, das sie festzuhalten strebte, in weite Ferne zurück, und bisweilen verblaßte es ganz. Wenn es nur die Trennung war, die das verschuldete, warum erwies sich diese Trennung denn machtlos jenem anderen Bilde gegenüber, das sich so ernst und düster erhob und immer deutlicher hervortrat, je mehr das erste sich verschleierte? Es hatte Gabriele nicht verlassen in diesen ganzen vierzehn Tagen; weder die schmeichelnden Huldigungen des jungen Officiers noch der Gedanke an den fernen Geliebten hatten die Erinnerung verscheuchen können, die alles Denken und Fühlen gewaltsam an sich riß. Es war, als habe eine dämonische Macht die ganze Natur des jungen Mädchens in Fesseln geschlagen; Frohsinn, Uebermuth, Kinderlaunen, das Alles war dahin, und was an dessen Stelle trat, diese dunklen und räthselhaften, mehr dem Schmerze als der Freude verwandten Regungen, dieses Auf- und Abwogen von Empfindungen, die sie nicht verstand, beängstigte und peinigte Gabriele unendlich. Noch kämpfte sie halb unbewußt dagegen, noch ahnte sie nicht, wollte nicht ahnen, welche Gefahr es war, die ihrer Liebe und dem Glücke Georg’s drohte; sie fühlte nur, daß Beides bedroht war, und daß die Gefahr nicht von außen kam.
Die Fahrt ging ununterbrochen in der gleichen Eile vorwärts, der Stadt zu, die nebelumflort noch in ziemlicher Entfernung lag. Das weite Thal mit seinem Bergeskranze trug schon das Gewand des Herbstes, der hier in der Nähe des Hochgebirges seine Herrschaft früher antrat, als drunten in der Ebene. Noch standen die Bäume und Gebüsche ringsum im vollen Blätterschmucke, aber sein frisches Grün war längst geschwunden. Ueberall entfaltete sich das herbstlich bunte Farbenspiel, vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Gelb, und dazwischen flammte es oft mit hellem Roth oder dunklem Purpur und täuschte das Auge, als seien es Blumen, die dort blühten – und es war doch nur sterbendes Laub mit seinem letzten trügerischen Schimmer, eine Beute des Windes, der in den Wäldern rauschte und mit scharfem Hauche über die kahlen Wiesen und Felder strich. Der Fluß tobte, vom Regen geschwellt, und wälzte seine trüben Fluthen in rasender Eile vorwärts. Das Gebirge hatte sich in seinen Nebelschleier gehüllt, der, flatternd und zerrissen, die zackigen Gipfel bald auftauchen, bald verschwinden ließ. Tiefer unten an den niederen Waldbergen trieben die Wolken ihr phantastisches Spiel, in endlosem Wechsel aus den gährenden Schluchten emporsteigend und wieder darin versinkend, und im Westen ging die Sonne nieder, von düsterem Stürmgewölke umlagert, das sie wohl glühend zu durchleuchten, aber nicht zu durchbrechen vermochte.
Dieselbe Landschaft, hatte einst in ganz anderem Lichte vor den Beiden gelegen, die jetzt so fremd und stumm neben einander saßen. Damals breitete sich das Thal vor ihnen aus, von Sonnenglanz überfluthet, von Sonnenduft erfüllt, mit seinen blauen Bergen und seiner schimmernden Ferne, die „ein ganzes Eden von Glückseligkeit“ zu bergen schien, und in dem tiefen, kühlen Schatten der alten Linden sprühte der helle Strahl des Nixenbrunnens und spann mit seinem Rieseln und Rauschen die süßen, gefährlichen Traumgebilde – heute tönte nur das Brausen des Flusses, an dessen Ufer die Fahrt entlang ging; die Ferne verschleierte sich in dichtem Nebel; die Berge blickten wolkenumhüllt, sturmdrohend herüber, und die Sonne hatte weder Strahlen nach Wärme mehr, nur das flammende blutige Abendroth, das sie als Abschiedsgruß über die Erde sandte. –
Das Auge des Freiherrn haftete düster und unverwandt auf der sinkenden Sonne und den kämpfenden Wolkenmassen; endlich schien er sich fast gewaltsam seinen Gedanken zu entreißen und brach das lange Schweigen.
„Der Himmel deutet auf Sturm,“ sagte er, sich zu seiner jungen Begleiterin wendend. „Es bricht aber jedenfalls erst in der Nacht los, und ich hoffe, wir sind noch vor Anbruch der Dunkelheit in R.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_339.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)