Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
„Niemals!“ brach Gabriele leidenschaftlich aus. „Er soll und wird nicht siegen. Ich habe es Dir versprochen, ich halte Wort.“
Georg hörte nicht die verhaltene Angst, die auch jetzt wieder in dem Tone lag; er hörte nur die ungewohnte Willenskraft darin, und trotz der Abschiedsstunde leuchtete in seinem Antlitz ein Strahl des Glückes auf. Er hatte nur zu sehr gefürchtet, die Geliebte auch jetzt wieder so kindisch, so sorglos und gleichgültig gegen die Trennung zu finden, wie einst, wo sie seinem Schmerz auch nicht das mindeste Verständniß entgegenbrachte. Es beseligte ihn unendlich, daß auch sie seine Trennung so schmerzlich empfand, daß sie ihn so angstvoll zurückzuhalten strebte, und ihr leidenschaftlich gegebenes Versprechen erfüllte ihn mit nie gekanntem Entzücken. Im überströmenden Gefühl beugte er sich nieder und küßte ihre Hand.
„Ich danke Dir,“ sagte er innig. „Aber Du bist seltsam verändert, seit wir uns nicht gesehen haben. Wo ist denn die sonnige Heiterkeit meiner Gabriele geblieben, die sonst, noch mit der Thräne im Auge, schon wieder lächeln konnte? Einst sagtest Du mir im Scherze: ‚Du kennst meine eigentliche Natur noch gar nicht.‘ Ich habe sie wirklich nicht gekannt – das fühle ich in diesem Augenblicke.“
Das junge Mädchen blieb die Antwort schuldig, aber die rosigen Lippen hatten in der That das Lächeln verlernt; sie schienen ein geheimes Weh zu verschließen, das sich nicht in Worten erleichtern konnte.
„Verzeih, wenn ich Dich verkannte!“ fuhr Georg mit steigender Zärtlichkeit fort. „Ich bekenne es – ich habe oft an Dir gezweifelt und mit Bangigkeit der Stunde entgegengesehen, die den unausbleiblichen Kampf mit Deiner Familie bringen mußte. Jetzt sehe ich, daß Du auch tief und ernst empfinden kannst, und jetzt glaube ich an Dich und Deine Liebe, auch wenn ein Raven mit seinem Machtgebote dazwischen tritt.“
Gabriele zuckte bei den letzten Worten zusammen; sie hob das gesenkte Auge empor. Es war ein Blick, den Georg nicht zu enträthseln vermochte, ein Blick voll Angst, Schmerz und rührender Bitte, aber schon im nächsten Momente wurde das Alles verdunkelt von einem Thränenstrom, der unaufhaltsam hervorstürzte.
„Meine arme Gabriele,“ flüsterte der junge Mann zu ihr niedergebeugt. „Du bist so wenig an Leid und Kummer gewöhnt, und gerade ich muß es sein, der sie Dir bringt. Aber wir waren ja darauf gefaßt, für unsere Liebe zu kämpfen; jetzt ist die Zeit da; wir müssen ertragen und überwinden. Vielleicht bereut Freiherr von Raven es doch noch einmal, in solcher Weise die Vorsehung gespielt zu haben. Er entläßt einen Feind mehr in die Welt und keinen so unbedeutenden, wie er glaubt.“
Gabrielens Thränen stockten; sie entzog dem Sprechenden die Hand, die er noch in der seinigen hielt. „Ihr seid – Feinde geworden?“
„Ich bin längst der Gegner Ravens gewesen. Frage mich nicht weshalb! Dir gegenüber kann und will ich Deinen Vormund und Verwandten nicht anklagen; das gehört vor ein anderes Forum. Aber glaube mir, er hat viel Haß und Feindschaft herausgefordert, hat seine Macht oft genug in einer Weise gebraucht, die unheilvoll geworden ist für seinen Wirkungskreis und einst noch unheilvoll für ihn selber werden wird. Er that nicht gut daran, mich mit eigener Hand aus dem Bannkreise seiner Persönlichkeit zu stoßen, der mich, wie so viele Andere, gefesselt hielt und dem ich mich nicht entziehen konnte, obgleich ich fühlte, daß er meine Willenskraft lähmte. Doctor Brunnow warnte mich nicht umsonst vor der dämonischen Macht dieses Mannes; auch mich hat sie oft bewundern gelehrt, wo ich hätte verurtheilen sollen. Jetzt ist der Bann gebrochen, und dort in der Residenz fallen auch die Rücksichten, die mich meinem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber banden.“
„Was meinst Du?“ fragte Gabriele unruhig. „Ich verstehe Deine Andeutungen nicht.“
„Du sollst sie auch nicht verstehen,“ sagte Georg fest, „aber versprich mir eins! Was Du auch hören magst, glaube nicht, daß persönliche Feindschaft oder niedrige Rache für einen versagten Wunsch mich zum Handeln treibt. Ich hatte längst beschlossen, den Kampf mit dem Gouverneur unserer Provinz aufzunehmen, weil er angenommen werden mußte und weil sich sonst Niemand fand, der es wagte, dem allmächtigen Raven die Stirn zu bieten. Ich hatte meine Waffen bereit – da lernte ich Dich kennen und erfuhr, daß der Mann, den ich auf Tod und Leben bekämpfen wollte, mein ganzes Lebensglück in Händen hielt, und da sank mir der Muth. Es mag unrecht, mag feige gewesen sein, aber ich möchte den sehen, der an meiner Stelle anders gehandelt, der es vermocht hätte, sich selbst all die Liebes- und Lebenshoffnungen zu zerstören, die ihm eben erst erblüht waren. Jetzt sind sie zerstört. Dein Vormund hat mir mit grenzenloser Härte auch für die Zukunft Deine Hand versagt, er, der nicht mehr wie ich zu bieten hatte, als er um die Tochter des Ministers warb. Wir sind als offene Gegner geschieden; jetzt werde ich mich nur noch von dem leiten lassen, was ich für Pflicht anerkenne. Und nun – lebe wohl!“
Gabriele hielt ihn zurück. „Georg, so darfst Du nicht von mir gehen, nicht mit diesen dunklen Drohungen, die mich namenlos ängstigen. Was hast Du vor? Ich will und muß es wissen.“
„Erlaß mir das!“ sagte der junge Mann, sanft, aber entschieden ablehnend. „Um Deiner selbst willen darf ich Dir die Mitwissenschaft nicht auferlegen. Du bist nicht frei wie ich. Du bleibst hier in der Nähe Deines Vormundes, im täglichen Verkehr mit ihm. Du würdest es wie eine Schuld empfinden, hättest Du auch nur in Gedanken Antheil an irgend Etwas –“
„Das ihn bedroht?“ fiel Gabriele mit so eigenthümlich vibrirender Stimme ein, daß Georg stutzte.
„Den Freiherrn von Raven meinst Du?“ sagte er langsam. „Traust Du mir irgend etwas Ehrloses zu?“
„Nein, nein – aber ich fürchte – für Dich, für uns Alle.“
„Sei ruhig, ich kämpfe mit offenem Visir und spreche im Namen von Hunderten, die nicht zu sprechen wagen. Der Gouverneur von R. mag antworten, wie es ihm gut dünkt. Er ist der Mächtige, dessen Stimme vor allem gehört wird; die Gefahr ist allein auf meiner Seite, aber auch das Recht. – Und nun laß uns scheiden! Wenn es irgend möglich ist, so erhältst Du Nachricht von mir aus der Residenz, aber wenn auch keine einzige Zeile bis zu Dir gelangen sollte, Du weißt es ja, daß Du allein mein ganzes Denken und Streben ausfüllst und daß ich mein Recht auf Deine Hand nicht fahren lasse, ich müßte denn aus Deinem eigenen Munde hören, daß Du mich aufgiebst.“
Er zog sie in seine Arme, zum ersten Male wieder seit jenem Tage, wo er ihr seine Liebe gestanden hatte. Der Abschied war kurz und schmerzvoll; noch ein paar innig und leidenschaftlich geflüsterte Worte, ein letzter Händedruck – dann riß sich Georg los und ging.
Gabriele war auf einen Sessel niedergesunken und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Thräne auf Thräne tropfte zwischen den Fingern nieder, und doch galt dieses leise, halb unterdrückte Weinen nicht der Trennung allein. Es war noch ein anderes, unnennbares Weh, das durch die Seele des jungen Mädchens zog und mit geheimnißvoller, aber furchtbarer Gewalt die ganze Vergangenheit auszulöschen drohte. Georg hatte Recht; er kannte Gabrielens eigentliche Natur bisher wirklich noch nicht, wenn diese Natur sich aber auch jetzt entschleierte – er war es nicht, der sie geweckt hatte.
Die letzten Wochen im Raven’schen Hause waren allerdings nichts weniger als angenehm gewesen. Zwar hatte sich dort im äußeren Leben nichts geändert; man sah und sprach sich nach wie vor bei Tische und bei gesellschaftlichen Veranlassungen, aber die frühere Unbefangenheit des Verkehrs hatte einer Gezwungenheit Platz gemacht, die wie ein schwerer Druck auf jedem Einzelnen lastete. Die Baronin fand sich in ihrer gewohnten Oberflächlichkeit noch am leichtesten damit ab. Sie begriff gar nicht, wie ein unbedeutender und flüchtiger Liebesroman, der ja nicht viel mehr als eine Kinderei war, den Freiherrn so tief und nachhaltig verstimmen konnte. In ihren Augen war die Sache mit dem energischen Verbot ihres Schwagers und der Entfernung des Assessor Winterfeld aus R. vollständig zu Ende und Gabriele mußte jetzt zweifellos zur Besinnung kommen. Die Mutter hatte ein, wie sie meinte, unfehlbares
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_324.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2016)