Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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Doctor Max Brunnow hatte aus dem Munde seines Freundes das Verbannungsurtheil des Hofraths Moser entgegengenommen, war aber leider wenig davon berührt worden.
„Ich wäre wahrhaftig wieder hingegangen,“ sagte er lachend. „Dieser vortreffliche Hofrath mit seiner bureaukratischen Majestät und der ewigen weißen Halsbinde ist eine kostbare Figur, und das junge Mädchen bedarf dringend einer vernünftigen ärztlichen Behandlung. Ich begreife es freilich, daß der ‚allergetreueste Unterthan seines allergnädigsten Souverains‘ den Sohn meines Vaters von seiner Schwelle bannt, aber es ist schade, daß meine Praxis hier in R. ein so schnelles Ende nimmt. Sie versprach, wenn auch nicht besonders einträglich, so doch amüsant zu werden.“ –
Es sollte sich indessen bald eine andere Praxis für den jungen Arzt finden, die zwar noch weniger einträglich zu werden versprach, ihm aber das vermißte „Amüsement“ in ganz ungeahntem Maße verschaffte. Georg hatte seinen Freund gebeten, die kranke Frau eines Copisten zu besuchen, der bisweilen Abschriften für den Assessor besorgte und dem dieser auch schon öfter Beschäftigung bei dem Regierungsbureau verschafft hatte. Die Frau litt bereits seit längerer Zeit an einer zehrenden Krankheit; der Arzt, den man herbeirief, war nur selten gekommen, hatte achselzuckend erklärt, daß da nicht viel mehr zu helfen sei, und schließlich die Besuche in der Familie aufgegeben, die in ärmlichen Verhältnissen lebte und nicht bezahlen konnte. Max war sofort bereit, der Aufforderung nachzukommen, und betrat schon am nächsten Tage das bezeichnete Häuschen, das in der Vorstadt dicht am Fuße des Schloßberges lag.
Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren öffnete dem jungen Arzte die Thür der ziemlich dürftig eingerichteten Wohnung, wo zwei jüngere Kinder den fremden Herrn mit großen Augen anstarrten, während die Mutter, von Kissen und Decken umhüllt, in einem alten Lehnstuhle saß. Max war in Begriff, näher zu treten, hielt aber überrascht inne, denn neben der Kranken bemerkte er ein junges Mädchen in nonnenhaft dunkler Kleidung, mit sehr blassem Gesicht und schlichtgescheiteltem Haar, das aus einem Buche vorlas, welches der Goldschnitt und das Kreuz auf dem Deckel unzweifelhaft als Gebetbuch kennzeichneten. Es war die Tochter des Hofraths Moser, die ihre Vorlesung abbrach und sich sehr verlegen erhob, als sie den Eintretenden erkannte.
„Guten Tag, mein Fräulein!“ sagte Max ruhig. „Verzeihen Sie, daß ich störe, aber ich komme als Arzt zu einer Kranken und bin diesmal wirklich der Erwartete, ohne jedes Mißverständniß.“
Das junge Mädchen wurde blutroth und zog sich einige Schritte zurück. Sie erwiderte nichts. Doctor Brunnow nannte sich jetzt der Kranken, die bereits auf sein Kommen vorbereitet war und ihn erwartete. Er begann sofort, ohne viele Umstände, seine Fragen zu stellen und den Krankheitszustand zu prüfen. Er that es nicht besonders verbindlich oder rücksichtsvoll; er ließ sich auf Tröstungen gar nicht ein, gab nicht einmal bestimmte Hoffnungen, aber die kurze, klare Entschiedenheit all seiner Bemerkungen und Anordnungen hatte etwas ungemein Beruhigendes.
Agnes Moser war inzwischen im Hintergrunde geblieben und hatte sich mit den Kindern beschäftigt. Sie schien nicht recht zu wissen, ob sie bleiben oder gehen sollte, entschied sich aber endlich für das Letztere. Sie setzte ihren Hut auf und verabschiedete sich von der Kranken, die sich in lebhaften Dankesäußerungen über die Güte des Fräuleins erging. Wenn Agnes aber glaubte, dadurch einem längeren Zusammensein mit dem Doctor Brunnow zu entgehen, so irrte sie sich; dieser empfahl nur noch in kurzen Worten die genaue Befolgung seiner Verordnungen, verhieß am nächsten Tage wiederzukommen und schloß sich dann mit der allergrößten Unbefangenheit dem jungen Mädchen an.
„Ich darf Sie also nicht mehr als meine Patientin betrachten, mein Fräulein,“ eröffnete er das Gespräch, als sie draußen im Freien waren. „Ihr Herr Vater scheint mir die Schuld an einem Mißverständniß beizumessen, zu dem ich doch wahrlich nicht den Anlaß gegeben habe. Er ließ mir in der unzweideutigsten Weise eröffnen, daß meine ferneren Besuche ihm nicht erwünscht seien.“
Agnes senkte in peinlicher Verlegenheit die Augen. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Doctor,“ entgegnete sie. „Es war meine Schuld allein – ich hätte nach Ihrem Namen fragen sollen. Seien Sie überzeugt, daß es nicht Mißtrauen in Ihre ärztliche Kunst ist, die meinen Vater bestimmt, auf Ihren Rath zu verzichten! Gründe anderer Art –“
„Ich weiß, politische Gründe!“ fiel Max mit unverhehlter Ironie ein. „Der Herr Hofrath verabscheut den revolutionären Namen, den ich trage, und beharrt darauf, in mir einen staatsgefährlichen Demagogen zu sehen. Ich bin weit entfernt, ihm oder Ihnen meinen Rath aufzudringen, möchte mich aber doch
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_291.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2016)