Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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kleinste Zugeständniß abringen und hört keine der warnenden Stimmen, die doch auch zu ihm dringen. Ist das Verblendung oder Charakterfestigkeit? Ich begreife es nicht.“
„Charakterfestigkeit – bei einem Renegaten?“
Georg sah gedankenvoll vor sich nieder; plötzlich sagte er: „Max, es giebt Augenblicke, wo ich eher an den Worten Deines Vaters zweifeln, als meinem Chef etwas Ehrloses zutrauen möchte. Ein Verbrechen der Herrschsucht, der Leidenschaft kann er begehen, aber gemeinen, niedrigen Verrath an seinen Freunden – jeder Zug in dem Manne spricht dagegen.“
„Und doch hat er ihn begangen. Glaubst Du, mein Vater würde sein einstiges Idol so grenzenlos hart verurteilen, ohne vollgültige Beweise? Was bedarf es ihrer auch? Das Leben dieses Arno Raven ist Beweis genug. Er war einst ein glühender Freiheitsschwärmer – was ist er jetzt?“
„Du hast Recht, und doch – laß uns abbrechen! Wir sind am Schlosse.“
Sie hatten in der That das Regierungsgebäude erreicht und mußten sich hier trennen. Es wurde noch rasch eine Verabredung für den Nachmittag getroffen, dann begab sich Georg in die Kanzlei und Max, der keine Eile hatte, in die Stadt zurückzukehren, nahm erst noch flüchtig das Schloß in Augenschein, das für Fremde allerdings eine der Sehenswürdigkeiten von R. bildet. Der junge Arzt kümmerte sich zwar herzlich wenig um Baustil und alterthümliche Romantik, aber das Schloß interessirte ihn seines jetzigen Bewohners wegen. Er streifte also durch die Bogengänge und Gallerien, so weit sie zugänglich waren, und wollte endlich wieder zurückkehren, irrte sich aber und gerieth, statt den Ausgang zu gewinnen, in einen der Seitenflügel. Er bemerkte den Irrthum erst, als er einen Corridor betrat, der zweifellos zu einer Wohnung führte, und war gerade im Begriffe, umzukehren, als die Thür jener Wohnung sich öffnete und eine ältere Frau heraussah.
„Da sind Sie ja, Herr Doctor,“ sagte sie erfreut. „Bitte, treten Sie nur ein! Das Fräulein wartet schon.“
„Auf mich?“ fragte Max, erstaunt über diese vertrauliche Begrüßung.
„Gewiß. Sie sind doch der Arzt?“
„Der bin ich allerdings.“
„Nun, dann kommen Sie nur herein! Ich werde Sie dem Fräulein melden.“ Damit verschwand die Frau, dem Anscheine nach eine Wirthschafterin oder Beschließerin, während Max in dem Entréezimmer blieb, wohin sie ihn genöthigt hatte.
„Das nenne ich Glück,“ sagte er halblaut. „Gleich bei den ersten Schritten, die ich hier in R. thue, fällt mir ganz unvermuthet eine Praxis in den Schooß. Sehen wir zu, wie die Sache sich entwickelt!“
Sie entwickelte sich ziemlich rasch. Schon nach einigen Minuten kam die Frau zurück und führte ihn in ein behaglich und freundlich ausgestattetes Wohnzimmer, wo eine junge Dame sich bei seinem Eintritte von ihrem Platze am Fenster erhob und ihm entgegen kam.
Es war noch ein sehr junges Mädchen, vielleicht sechszehn oder siebenzehn Jahre alt, hoch und schlank gewachsen, aber von sehr kränklichem Aussehen. Eine durchsichtige Blässe bedeckte das nicht gerade schöne, aber zarte und angenehme Gesicht. Um die Augen zogen sich bläuliche Schatten während Wangen und Lippen kaum eine Spur von Röthe zeigten. Die Kleidung war von einer fast übertriebenen Einfachheit und durchaus klösterlichem Zuschnitte. Das schwarze Kleid, ohne die geringste Verzierung, schloß hoch am Halse und dicht an den Handgelenken. Ein schwarzes Spitzentuch verhüllte vollständig das Haupt, sodaß nur ein schmaler Streifen des glattgescheitelten dunklen Haares sichtbar wurde. Die Haltung der jungen Danne war sehr schüchtern und verlegen, als sie mit niedergeschlagenen Augen vor dem Arzte stand, ohne ein Wort zu sprechen.
„Sie wünschen ärztlichen Rath, mein Fräulein?“ fragte Max endlich, nachdem er vergebens auf eine Anrede gewartet hatte. „Ich stehe Ihnen zu Diensten.“
Bei dem Klange seiner Stimme hob das junge Mädchen die Augen empor, ein paar ausdrucksvolle dunkle Augen, senkte sie aber schnell wieder und trat mit offenbarer Aengstlichkeit einen Schritt zurück. Auch ihrer älteren Gefährtin schien bei genauerer Betrachtung das jugendliche Aussehen des Doctors Bedenken zu erregen, denn sie verweilte dicht neben ihrer Schutzbefohlenen, die jetzt mit leiser, weich klingender Stimme antwortete:
„Mein Vater wünscht, daß ich den Rath eines Arztes in Anspruch nehme. Es ist gewiß nicht nothwendig; ich fühle mich nicht eigentlich krank.“
„Sie sind es aber gründlich,“ fiel die Aeltere ein, die mehr zur Familie als zur Dienerschaft zu gehören schien. „Und der Herr Hofrath besteht doch nun einmal darauf.“
„Herr Hofrath Moser?“ fragte Max, dem urplötzlich ein Licht aufging, in wessen Haus ihn der Zufall geführt hatte.
„Ja. Haben Sie ihn denn nicht gesprochen?“
„Vor zehn Minuten, ehe ich hierher kam,“ erklärte der junge Arzt, mühsam das Lachen unterdrückend. Er vergegenwärtigte sich das entsetzte Zurückweichen des loyalen Hofrathes, als der Name seines Vaters genannt wurde. Unter anderen Umständen würde er den Irrthum wohl aufgeklärt haben, jetzt aber dachte er nur an den Aerger des alten Herrn, der ihn so ungnädig behandelt hatte, wenn er den Demagogensprößling in seiner eigenen Wohnung entdecken würde. Brunnow beschloß auf alle Fälle seinen Platz zu behaupten.
„Sie sehen aber doch leidend aus, mein Fräulein,“ nahm er wieder das Wort, indem er ihre Hand ergriff und den Puls aufmerksam prüfte. „Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?“
Das Examen begann. Sobald Max einen Patienten vor sich hatte, war er nichts weiter als Arzt, den nur der vorliegende Krankeitsfall interessirte, auch jetzt traten alle übermüthigen Regungen davor zurück. Er stellte seine Fragen kurz, knapp und klar, ohne viel Worte zu machen, ohne sich irgendwie von der Sache zu entfernen, und das schien seiner jungen Patientin allmählich Vertrauen einzuflößen. Sie wurde unbefangener, ausführlicher in ihren Antworten und sah sich nicht mehr bei jedem Worte ängstlich nach ihrer Beschützerin um. Endlich war das Examen zu Ende, und Max schien davon befriedigt zu sein.
„Ich glaube nicht, daß ein Grund zu ernsten Besorgnissen vorliegt,“ sagte er. „Ihr Leiden scheint nervöser Natur zu sein, vielleicht durch geistige Ueberreizung veranlaßt und durch Mangel an Luft und Bewegung verschlimmert.“
„Ja wohl,“ mischte sich die Wirthschafterin ein, die augenscheinlich gewohnt war, überall mitzusprechen. „Fräulein Agnes macht sich gar keine Bewegung und kommt nie in’s Freie, den täglichen Gang in die Frühmesse ausgenommen. Ich habe immer gesagt, daß das Beten, Kasteien und Fasten –“
„Aber Christine!“ unterbrach sie das junge Mädchen bittend.
„Ach was, dem Doctor muß man beichten,“ versetzte Christine. „Das Fräulein übertreibt es wirklich mit der Frömmigkeit, Herr Doctor, und liegt den ganzen Tag auf den Knieen.“
„Das ist sehr unzuträglich; das müssen Sie unterlassen,“ sagte der junge Arzt dictatorisch.
Fräulein Agnes sah mit einem Ausdrucke des Schreckens auf, als traue sie ihren eigenen Ohren nicht.
„Herr Doctor –“
„Auch der tägliche Gang zur Frühmesse muß unterbleiben,“ fuhr Max mit der gleichen Entschiedenheit fort, ohne den Einwand zu beachten. „Sie haben allen Grund, sich vor Erkältungen zu hüten, und die Morgen werden schon herbstlich kühl. Das Fasten aber verbiete ich ein für alle mal ganz entschieden; es ist geradezu Gift für Ihren Zustand.“
„Aber Herr Doctor!“ sagte das junge Mädchen zum zweiten Male, doch auch dieser Protest fand kein Gehör. Max ließ sich durchaus nicht beirren.
„Dagegen verordne ich Ihnen täglich einen längeren Spaziergang, aber in der Mittagsstunde, möglichst viel Luft, Bewegung und auch Zerstreuung. Die Wintervergnügungen nehmen ja bald ihren Anfang. Sie dürfen freilich nicht allzu viel tanzen.“
Jetzt zog sich Agnes mit der gleichen Schnelligkeit zurück, wie vorhin ihr Vater – um mindestens drei Schritte. „Tanzen?“ wiederholte sie ganz außer sich. „Tanzen?“
„Ja, warum denn nicht? Das thun alle jungen Mädchen. Sie werden doch nicht allein eine Ausnahme machen wollen?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_225.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)