Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
|
„Geradeswegs von zu Hause,“ versetzte dieser, die Begrüßung ebenso herzlich erwidernd. „Ich bin erst vor einer halben Stunde im Gasthofe angelangt und habe mich sogleich auf den Weg zu Dir gemacht.“
„Aber weshalb schriebst Du mir denn nicht einige Zeilen? Wolltest Du mich überraschen?“
„Das nicht, die Reise war vielmehr eine Art Ueberraschung für mich, denn es sind durchaus keine idealen Freundschaftsgefühle, die mich herführen, wie Du Dir vielleicht schmeichelst, sondern eine höchst reale Erbschaftsangelegenheit. Aber vor allen Dingen – wie geht es Dir? Du siehst blaß aus – natürlich, wenn man schon am frühen Morgen über den Büchern sitzt – Georg, Du bist unverbesserlich.“
Georg wehrte lachend die Hand des Freundes ab, der nach seinem Pulse greifen wollte, und zog ihn auf das Sopha. „Laß’ nur den Doctor bei Seite! Ich befinde mich vortrefflich. Also eine Erbschaftsangelegenheit führt Dich her? Sind Euch Reichthümer zugefallen?“
„Das gerade nicht,“ sagte Max. „Nur ein sehr bescheidenes Vermögen, der Nachlaß eines alten Vetters, der hier in der Umgegend von R. ein kleines Gut besitzt. Ich habe ihn gekannt. Er war mit meinem Vater wegen dessen politischer Vergangenheit vollständig zerfallen. Jetzt ist er ohne Testament und ohne directe Erben gestorben, und Papa erhielt, als der nächste lebende Verwandte, vom hiesigen Gericht die Aufforderung, seine Rechte geltend zu machen. Er persönlich kann das nun freilich nicht; Du weißt ja, daß er sein Vaterland nicht betreten darf, ohne sofort wieder in die Festung zu wandern, die er einst auf dem etwas ungewöhnlichen Wege der Strickleiter verlassen hat; das damalige Urtheil hängt ja noch immer über seinem Haupte. Also hat er mich als seinen Vertreter geschickt.“
„Du hast doch hinreichende Vollmacht?“ warf der Assessor ein.
„Die ausgedehnteste, aber trotzdem wird es Weitläufigkeiten und Formalitäten genug geben. Papas damalige Flucht und dauernde Entfernung verwickeln die Sache einigermaßen, und mein berüchtigter Demagogenname wird die Herren vom Gericht auch gerade nicht zu besonders liebenswürdigem Entgegenkommen veranlassen. Ich habe in dieser Voraussicht einen längeren Urlaub genommen und denke bis zur Erledigung der Sache in R. zu bleiben. Ich rechne sehr auf Deinen juristischen Rath und Beistand.“
„Ich stehe Dir ganz zur Verfügung. Vor allen Dingen aber gieb Dein Quartier im Gasthofe auf und komme zu mir! Ich habe Raum genug.“
„Das werde ich mit Deiner Erlaubniß nicht thun,“ sagte Max trocken.
„Weshalb nicht?“
„Weil ich Dir keine Unannehmlichkeiten mit Deinen Vorgesetzten zuziehen will. Oder kannst Du mir versichern, daß Dein Besuch bei uns ganz unbemerkt und ungerügt vorüber gegangen ist?“
Georg sah zu Boden. „Ich habe allerdings einige scharfe Worte von meinem Chef hinnehmen müssen, aber die Bevormundung und die Rücksicht auf meine Stellung hat ihre Grenzen. Meine Freundschaftsbeziehungen opfere ich ihr nicht.“
„Das brauchst Du auch nicht,“ erklärte der junge Arzt, „aber Du brauchst den Conflict auch nicht herauszufordern. Du weißt, ich halte gar nichts von den nutzlosen Aufopferungen, und Deine Einladung ist eine solche. Keine Einwendung, Georg! Ich bleibe unbedingt im Gasthofe. Du compromittirst Dich schon genug in den Augen aller loyalen Gemüther, wenn Du mich nicht als Freund verleugnest.“
Die Weigerung wurde in so bestimmtem Tone ausgesprochen, daß Georg einsah, wie nutzlos jeder fernere Versuch sein würde, er fügte sich also.
„Nun, so laß mich Dir wenigstens zu der Erbschaft gratuliren,“ nahm er wieder das Wort. „Sie ist, wenn auch nicht bedeutend, doch immer von Wichtigkeit für Euch.“
„Gewiß, und das hauptsächlich um meines Vaters willen. Er kann sich nun ungestört seiner geliebten Wissenschaft hingeben, ohne daß die Existenzfrage ewig für ihn im Vordergrunde steht. Auch ich gewinne dadurch eine langgewünschte Selbstständigkeit. Ich hätte längst schon meine Stellung am Hospital aufgegeben, wäre es nicht nothwendig gewesen, unserem Haushalt ein festes Einkommen zu sichern, das er nun entbehren kann. Ich werde mir jetzt eine Praxis gründen und mich verheirathen.“
„Du willst heiraten?“ fragte Georg erstaunt.
„Natürlich will ich das. Eine Frau muß der Mensch doch haben – das gehört zur Bequemlichkeit.“
„Aber wen willst Du denn heiraten?“
„Das weiß ich noch nicht. Sobald ich einen eigenen Herd habe, halte ich Umschau und führe die Braut heim.“
„Doch wohl eine von den Töchtern des Schweizerlandes?“
„Gewiß! Ich schätze die tüchtige praktische Natur dieses Volkes sehr hoch, wenn auch bisweilen einige Derbheiten mit unterlaufen. Zartheit kann ich bei meiner Frau ohnehin nicht brauchen; Eheleute müssen zu einander passen.“
„Da gehst ja sehr gründlich zu Werke,“ spottete Georg. „Du hast Dir wohl ein förmliches Programm zurecht gemacht, mit all den Eigenschaften, die Deine zukünftige Frau besitzen muß? Also, Paragraph eins –?“
„Vermögen!“ sagte Max lakonisch. „Ja, da empören sich nun wieder Deine idealistischen Gefühle. Vermögen ist unerläßlich. Zweitens: praktische Hausfrauenerziehung – das ist ebenso wichtig, wenn man ein bequemes Leben führen will. Drittens: blühende Gesundheit; ein Arzt, der sich mit allen möglichen Krankheiten herumschlägt, will nicht auch in seinem Hause den Doctor spielen. Viertens: –“
„Um Gottes willen, höre auf!“ unterbrach ihn der Freund. „Ich glaube, Du hast ein Dutzend Paragraphen für Dein Eheglück nöthig. Die Liebe steht wohl in keinem derselben?“
„Die Liebe kommt nach der Hochzeit,“ versetzte der junge Arzt zuversichtlich. „Bei vernünftigen Leuten wenigstens, und die besten Ehen sind die, welche mit genauer Berechnung der Charaktere und Verhältnisse geschlossen werden. Sobald das Programm stimmt, mache ich meinen Antrag und heirathe. Punctum!“
Das griff an’s Herz, und ich vergeß’ es nimmer:
Es war die letzte Nacht im Vaterhaus;
Zieh’n sollt’ ich mit dem ersten Frührothschimmer,
Vielleicht auf ewig, in die Welt hinaus.
Denn viel bewegte mir die junge Brust:
Des Heimwehs Vorgefühl, des Scheidens Schwüle
Und Hoffnung doch und rege Wanderlust.
Da schlug es zwölf. Die Lampe brannte trübe,
Ein Geist erschien mir, doch ein Geist der Liebe;
Denn meiner Mutter gleich erschien er mir.
Sie nahte still, als wollte sie nicht stören
Des Sohnes, wie sie meinte, tiefe Ruh’.
Ich sah sie, doch ich schloß die Augen zu.
Wie nah’ ihr Odem! Ihre Hände lagen
Auf meinem Haupte, wie schon oft zuvor –
Erlauscht ich auch nicht ihrer Lippen Klagen,
Dann fühlt’ ich ihre Wange auf der meinen –
Warum umschlang ich liebevoll sie nicht,
Als ich sie weinen hörte, schmerzlich weinen
Und eine Thräne fiel auf mein Gesicht?
Und küßte leise diese Thräne fort.
Drauf ging sie wieder – still, wie sie gekommen.
Ich ließ sie geh’n und sprach dazu kein Wort.
– Am Morgen schied ich, ohne ihr zu sagen,
Treu hab’ ich die Erinnerung getragen
Im Herzen, wo des Menschen Bestes ruht.
Und dann, als ich nach wechselvollen Jahren
Am off’nen Grabe meiner Kinder stand,
Was jene Nacht mein Mütterlein empfand.
Und Lieb’ und Reue, Dank und heißes Sehnen,
Ich kost’ sie täglich, koste sie nicht aus.
Wohl bin ich glücklich – aber oft in Thränen
Cincinnati, O.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_210.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)