Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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sie wurden fortgezogen, weit fort in geheimnißvoll dämmernde Tiefen, wohin kein Laut des Lebens mehr drang, wo alles Ringen und Sehnen, alles Glück und Weh erstarb in einem tiefen, tiefen Traum, und mitten in dem Traume vernahmen sie wieder das leise, geisterhafte Singen des Quelles, das wie aus endloser Ferne zu ihnen niedertönte. –
Unten in der Stadt setzten die Glocken zum Mittagsgeläut ein. Die weichen, hellen Klänge schwebten herauf zu dem Schloßberge, und vor diesem Laut zerrannen die seltsamen Gebilde, welche jenes Rauschen gesponnen. Raven sah auf, als sei er unangenehm geweckt worden, während Gabriele sich rasch erhob und mit einer Bewegung, die fast der Flucht glich, an die epheuumrankte Mauerbrüstung trat, um dort vorgebeugt den Klängen zu lauschen. Sie zogen weithin durch die stille Luft, wie damals am Seeufer, als sie mit Georg – Gabriele vollendete den Gedanken nicht. Warum drängte sich auf einmal Georg’s Name wie mit einem Vorwurf in ihr Gedächtniß? Warum stand sein Bild plötzlich so deutlich vor ihr, als wolle es seine Rechte wahren und behaupten? Damals, als sie unter Scherz und Lachen von ihm Abschied nahm, hatten ihr die Glockenklänge gar nichts gesagt, heute durchzuckte es sie bei der Erinnerung jäh und schmerzlich, wie eine Mahnung, sich nicht wieder fortziehen zu lassen aus dem goldenen Sonnenlicht in unbekannte Tiefen, wie eine Warnung vor irgend einer dunkel geahnten Gefahr, die ihre Kreise um sie zog. Ihr war unbeschreiblich bang zu Muthe.
Auch der Freiherr hatte sich erhoben und trat jetzt zu ihr. „Du flüchtest ja förmlich,“ sagte er langsam. „Wovor denn? Vor mir vielleicht?“
Gabriele versuchte mit einem Lächeln ihrer Bangigkeit Herr zu werden, als sie erwiderte: „Vor dem Rauschen des Nixenbrunnens, es klingt so gespenstig in der stillen Mittagsstunde.“
„Und doch hast Du gerade ihn zum Lieblingsplatze gewählt?“
„Er ist ja die längste Zeit gewesen. Vielleicht verwandelt Dein Befehl ihn morgen schon in ein wüstes Chaos von Erde und Steinen, und –“
„Und ich frage nicht danach, ob meine Befehle Jemanden wehe thun,“ vollendete Raven, als sie inne hielt. „Das mag sein, aber – liebst Du den Quell wirklich so sehr, Gabriele? Würde es Dir im Ernst wehe thun, ihn vernichtet zu sehen?“
„Ja,“ sagte Gabriele leise und hob das Auge empor, ihr Mund sprach keine Bitte aus, aber die Augen, in denen eine Thräne schimmerte, baten heiß und innig für den bedrohten Quell.
Raven schwieg und wandte sich ab; einige Minuten lang stand er wortlos an ihrer Seite, dann begann er von Neuem:
„Ich habe Dich vorhin erschreckt mit meinen herben Lebensansichten. Wer sagt denn aber, daß Du sie theilen sollst? Ich vergaß, daß die Jugend ein Recht auf Träume hat, und daß es grausam ist, sie ihr zu nehmen. Glaube Du immerhin noch an die goldene Zukunftsferne, an die Verheißung jener blauen Berge! Du darfst noch der Welt und den Menschen vertrauen, und Du wirst auch schwerlich je ihren Haß erfahren.“
Seine Stimme klang eigenthümlich weich und verschleiert, und aus dem Blicke, der so düster auf dem jungen Mädchen ruhte, war alle Härte und Strenge gewichen, aber Arno Raven war nicht lange solchen Regungen zugänglich, und es schien auch, als dürfe er sich ihnen überhaupt nicht hingeben, denn gerade jetzt ertönten Schritte hinter ihnen, und als sie sich umwendeten, trat der Castellan des Schlosses mit einem älteren Manne, der dem Handwerkerstand anzugehören schien, in den Garten. Beide blieben stehen, als sie den Gouverneur gewahrten, und grüßten ehrerbietig.
Raven hatte schnell die ungewohnte Weichheit abgeschüttelt. „Was giebt es?“ fragte er, wieder ganz in dem kurzen, gebieterischen Tone, der ihm eigen war.
„Excellenz haben befohlen, den Nixenbrunnen abzubrechen und den Quell zu verstopfen,“ nahm der Handwerker das Wort. „Es sollte heute noch geschehen; meine Leute kommen in einer halben Stunde; ich wollte nur zuvor nachsehen, ob die Arbeit viel Zeit und Mühe kosten wird.“
Der Freiherr sah auf den Brunnen und dann auf Gabriele, die noch an seiner Seite stand; es war, ein kaum merkliches, sekundenlanges Zögern.
„Schicken Sie die Leute zurück!“ befahl er dann, „die Arbeit ist nicht mehr nöthig.“
„Wie meinen Excellenz?“ fragte der Handwerker erstaunt.
„Die Wegnahme des Brunnens würde den Garten schädigen; er bleibt stehen. Ich werde andere Bestimmungen treffen.“
Ein Wink mit der Hand verabschiedete die beiden Männer; sie wagten natürlich keinen Widerspruch, aber die Verwunderung prägte sich deutlich auf ihren Gesichtern aus, als sie den Garten verließen. Es war das erste Mal, daß ein mit so großer Bestimmtheit gegebener Befehl des Gouverneurs zurückgezogen wurde.
Raven war an den Rand der Fontaine getreten und blickte in den fallenden Tropfenregen. Gabriele stand noch drüben an der Mauerbrüstung; jetzt kam sie langsam, zögernd näher und streckte ihm dann plötzlich beide Hände hin.
„Ich danke Dir.“
Er lächelte, aber nicht mit dem gewohnten Sarkasmus – diesmal flog es wie Sonnenschein über seine Züge, als er die dargebotene Hand ergriff und zugleich mit der Linken sanft Gabrielens Haupt emporhob, um ihre Stirn zu küssen. Das war durchaus nichts Außergewöhnliches. Er pflegte es stets zu thun, wenn sie ihm beim Frühstücke den Morgengruß brachte, und sie hatte es bisher ebenso unbefangen hingenommen, wie der Vormund kühl und ernst von seinem väterlichen Rechte Gebrauch machte. Heute zum ersten Male wich das junge Mädchen unwillkürlich zurück, und Raven fühlte, wie die Hand, die er in der seinigen hielt, leise bebte. Er richtete sich plötzlich empor, ohne daß seine Lippen ihre Stirn berührt hatten, und ließ die Hand fallen.
„Du hast Recht,“ sagte er gepreßt. „Das Rauschen des Nixenbrunnens hat etwas Geisterhaftes – laß uns gehen!“
Sie wandten sich zum Gehen. Hinter ihnen rauschte und rieselte der Quell und warf unermüdlich seine weißen Wasserschleier empor. Die drohende Vernichtung war ja nun abgewendet; die Bitte jener braunen Augen und die Thräne darin hatte ihn gerettet, und der ernste, kalte Mann, der die Höhe des Lebens längst überschritten hatte, fühlte es vielleicht in diesem Augenblicke, daß er auch nicht gefeit war gegen den „Nixenzauber“.
Georg Winterfeld saß in seiner Wohnung am Schreibtische. Er sah angegriffen, fast leidend aus; die kurze Frische, welche die Reise seinem Aeußeren gegeben, war längst wieder geschwunden, und die Blässe, welche selbst damals die feinen, durchgeistigten Züge des jungen Mannes deckte, war noch um einen Schein tiefer geworden. Er muthete sich in der That bisweilen allzu viel in der Arbeit zu – die Pflichten seiner Stellung nahmen ihn schon hinreichend in Anspruch, aber trotzdem benutzte er jede freie Stunde, um sich mit rastlosem Eifer allen möglichen Studien hinzugeben, die ihm in seiner Laufbahn förderlich sein konnten. Georg arbeitete oft genug auf Kosten seiner Gesundheit; ihn trieb ein edlerer Sporn, als der Ehrgeiz, mit jedem Schritte, den er vorwärts that, minderte sich ja die Kluft, die ihn von der Geliebten trennte, und er war sich trotz aller persönlichen Bescheidenheit doch zu sehr seiner Kraft und seines Werthes bewußt, um nicht die zuversichtliche Hoffnung zu hegen, daß diese Kluft sich einst ganz ausfüllen werde. Seine Collegen, die sich meist auf ihre pflichtmäßigen Leistungen in den Bureaustunden beschränkten, wußten kaum von dieser stillen, angestrengten Thätigkeit des Assessors, der nie darüber sprach; nur das durchdringende Auge seines Chefs hatte herausgefunden, welch eine Summe von Arbeitskraft und Begabung in dem jungen Beamten lag, so wenig dieser auch bisher Gelegenheit gefunden hatte, sie nach außen hin zu bethätigen.
Georg benutzte mit Vorliebe die Morgenstunden zum Arbeiten; auch heute saß er über ein juristisches Werk gebeugt und hatte sich so darin vertieft, daß er das Oeffnen der Thür im vorderen Zimmer vollständig überhörte. Erst als eine bekannte Stimme sagte: „Bemühen Sie sich nicht! Ich finde schon allein den Weg zu dem Herrn Assessor,“ fuhr er auf. In dem gleichen Augenblicke trat der Ankömmling auch schon ein.
„Guten Morgen, Georg! Da bin ich.“
„Max! Ist es möglich? Wie kommst Du nach R.?“ rief Georg freudig überrascht, dem Freunde entgegeneilend.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_209.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)