Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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zu Gunsten unserer Mitmenschen und zum Besten der menschlichen Gesellschaft, deren Glieder wir sind.
Diese bedeutungsvolle Erkenntniß sollte sich die Kirchenreligion zu Nutze machen, statt sie zu bekämpfen. Denn nicht derjenigen Theologie gehört die Zukunft, welche gegen die siegreiche Entwicklungslehre einen fruchtlosen Kampf führt, sondern derjenigen, welche sich ihrer bemächtigt, sie anerkennt und verwerthet. Der Sieg des Monismus, der Lehre von der inneren Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit des Idealen und Realen, über sein Gegentheil, den Dualismus, eröffnet uns den hoffnungsvollsten Fernblick auf einen unendlichen Fortschritt ebenso unserer moralischen wie unserer intellectuellen Entwickelung. In diesem Sinne begrüßen wir die heutige, von Darwin neu begründete Entwickelungslehre als die wichtigste Förderung unserer reinen und angewandten Gesammtwissenschaft.“
Mit Spannung sah man der Sitzung entgegen, in welcher der gegnerische Vortrag Rudolph Virchow’s in Aussicht stand: „Ueber die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat“. Die Ausführung dieses Themas hatte vornehmlich den Inhalt der vorangegangenen Vorträge der Herren Häckel und Nägeli im Auge, wobei der berühmte Redner in einer nicht gerade streng wissenschaftlichen Form der Darstellung die Forschungen der Genannnten in bestimmte Grenzen zurückwies. Redner wies darauf hin, daß durch die modernen Hypothesen die mühsam errungene Freiheit des Lernens und des Lehrens gefährdet werden könne, wir daher jetzt gezwungen seien, durch eine rücksichtsvolle Mäßigung auf dem Gebiete des Forschens, durch persönlichen Verzicht auf Liebhaberei und gewisse Ansichten die günstige Stimmung der Nation zu erhalten. Virchow warnte weiter, daß man nicht in der persönlichen Freiheit, welche sich jetzt auf dem Gebiete der Naturwissenschaften „breit mache“, fortfahre. Alles, was blos in den Bereich der Probleme und der speculativen Erörterungen gehöre, dürfe weder auf materiellem, noch auf geistigem Gebiete der Nation dargeboten werden; die neuen Theorien der Entwickelungsgeschichte und der Lehre der Abstammung des Menschen vom Affen dürften durchaus nicht in die Schulen hineingetragen werden. Jede vollständig festgestellte Wahrheit könne man jedem Gebildeten, ja jedem Kinde übergeben, ohne den Vorwurf des Halbwissens auf sich zu laden. Bei Trennung des Wissens aber habe man sich auch in der Naturforschung zu erinnern, daß sie, wie Alles in der Welt, aus drei verschiedenen Stücken zusammengesetzt sei: aus objectivem und subjectivem Wissen, wozu als Mittelstück der Glaube, der auch in der Wissenschaft, wie in der Religion bestehe, hinzutrete. Umgekehrt habe auch die Kirche ihre objective Seite, nämlich die historische, und ihre subjective, die in Visionen, Träumen und Hallucinationen zu Tage trete. Es mag die Mehrzahl der Naturforscher der Meinung sein, der Mensch stehe mit der Thierwelt im Zusammenhange. Das dürfe man aber nur dem Höchstgebildeten gegenüber als Vermuthung aussprechen. Jedem „Bauernjungen“ aber dürfe man nie sagen: Das weiß man, und das vermuthet man. Auch der Socialismus habe bereits Fühlung mit der Descendenztheorie. Es könne ja die Lehre der Abstamnnung des Menschen richtig sein, sie sei aber nicht erwiesen, da noch kein Affenschädel gefunden worden, der einem Menschen hätte angehören können, und so sei immer thatsächlich noch eine scharfe Grenze zwischen Mensch und Affe. Wer lehren will, dürfe nicht das subjective Wissen zum Gegenstande der Doctrin mache.
Besonders jeder Versuch, die Kirchenlehre durch eine Abstammungstheorie zu ersetzen, müsse scheitern und würde die höchste Gefahr für die Wissenschaft mit sich bringen. „Jeder einzelne Naturforscher,“ schloß der Vortragende seine bedeutungsvolle Rede, „muß sich gerade jetzt doppelt prüfen, wie viel von dem, was er weiß, objective Wahrheit ist, und er muß sich bemühen, alle inductiven Erweiterungen und Schlüsse, die noch so naheliegend erscheinen, mit kleinen Lettern unter den Text drucken zu lassen. Der alte Baco sagte: Scientia est potentia (Wissen ist Macht), aber er hat auch das Wort definirt, nicht als speculatives, sondern als objectives Wissen. Wir werden unsere Macht gefährden, wenn wir nicht auf die vollkommen sicheren, berechtigten und unangreifbaren Gebiete uns zurückziehen.“
So weit in Kürze die Rede Rudolph Virchow’s. Auf die höchst interessanten und fesselnden Mittheilungen noch einiger anderen Gelehrten hier näher einzugehen, müssen wir verzichten, da wir uns bestreben wollen, die Leser dieses Blattes vornehmlich in jenen bedeutungsvollen Kampf der Ansichten über die Grenzen naturwissenschaftlicher Forschung einzuführen.
Wir sind weit davon entfernt, Virchow’s Ansicht, daß man nur dasjenige als positive Wahrheit lehren solle, was objectiv und unumstößlich nachgewiesen ist, zu beanstanden. Allein wenn wir uns von der Herrschaft des Uebernatürlichen und Unbegreiflichen nicht von vornherein losmachen und das Wesen der Dinge nicht in uns selbst suchen, können wir nie zum Endziele einer objectiven Wahrheit gelangen. Die Annahme, daß kein Naturgesetz existirt, außer demjenigen, welches lebendig in der Natur, an den Stoff gebunden, schaltet und waltet, ist eine logisch begründete Wahrheit, und es muß mit Entschiedenheit davor gewarnt werden, daß auf dem vorandringenden Wege der Forschung aus „Rücksicht“ vor dem „Unbegreiflichen“ Halt gemacht werde.
Nicht der Ausspruch Virchow’s, daß der Darwinianismus Behauptungen aufstelle, die er noch nicht beweise könne, ist es, was wir beanstanden, sondern das Hereinziehen von Warnungen, die auf die Kanzel eines Prälaten, nicht auf das Katheder eines Naturforschers gehören.
Wenn auch das Positive eines Theiles der Darwin-Häckel’schen Arbeiten noch nicht in allen Einzelnheiten mathematisch festgestellt ist, so sind doch die negativen Beweise gegen das Uebernatürliche, gegen den Spiritualismus und gegen gewisse Dogmen so überwältigend und vernichtend, daß allerdings jene ehrenhafte Forscher sich sagen mußten: das darf ich der Welt nicht vorenthalten; das darf ich nicht in das Kämmerlein meiner Eigenbeobachtung einschließen.
Virchow geräth leider bei seinen wohlgemeinten Bestrebungen in den Fehler, daß er den Politiker und den Naturforscher zugleich auf die Rednerbühne führt. Die Rücksichten, welche jene Seite der Thätigkeit mit sich bringt, dürfen aber die freie Arbeit der Forschung niemals beeinflussen. Denn was hat die strenge Wissenschaft mit den Auswüchsen der Politik, dem Socialismus, dem Spiritismus und den Visionen und Hallucinationen verrückter Heiligen zu thun? Mit seinen Auseinandersetzungen auf der Naturforscherversammlung zu München hat Virchow der Wissenschaft den entgegengesetzten Dienst erwiesen, den er ihr leisten wollte, denn die Schwarzbemäntelten in Staat und Kirche haben die Worte des auf dem Gebiete des Geistes so einflußreichen Mannes schon ausgebeutet und halten solche der freien Forschung alltäglich als abwehrenden Schild entgegen.
Das deutsche Volk muß und wird Häckel dankbar dafür sein, daß er uns mit den Resultaten des bedeutendsten Naturbeobachters der Neuzeit, den Forschungen Darwin’s, so innig bekannt gemacht hat. Glücklicher Weise ist der gesunde kernige Sinn unter den Gebildeten unseres Volkes schon so weit für das Erfassen der Naturwahrheiten herangediehen, daß er sich selbst durch die angstmachenden Schläge aus dem sonst so fortschrittlichen Munde nicht einschüchtern lassen wird. Jeder Gebildete weiß, daß die Naturwissenschaften keine gefährlichen Waffen des Satans gegen die Kirche sind oder sein sollen. Darwin selbst hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, als solle seine Lehre feindlich gegen Religion und Kirche vorgehen. Er steht im reinen Dienste der Wissenschaft, für deren freie Bewegung er allerdings keine Schranken kennt.
Auch sieht die aufgeklärte Geistlichkeit in den Bestrebungen der modernen Forschung durchaus nichts Feindliches gegen die Kirchenlehre, und ein College Virchow’s aus dem preußischen Abgeordnetenhause, der evangelische Pfarrer Richard Schumann, macht in einer trefflichen Broschüre „Darwinismus und Kirche“ darauf aufmerksam, daß die moderne Naturwissenschaft ganz gut neben der Kirche einhergehen könne, da der Gottesbegriff ein Besitz der inneren Welt sei, daß Gottes Dasein weder durch ein Mikroskop und Teleskop erwiesen noch fortgewiesen werden könne, daß daher auch der große Astronom Laplace mit Recht einst von sich habe sagen können, daß er den ganzen Himmel durchforscht, aber Gott nicht darin gefunden, denn – er habe ihn ja nicht daselbst gesucht. Das Grenzgebiet, wo Religion und Naturwissenschaft sich berühren, sei kein mit sicheren Grenzpfählen umstecktes Eigenthum der Religion, und die Kirche solle sich daher hüten, durch Machtsprüche auf ein Gebiet, das nicht das ihre, hinüberzutreteten, um zu erweisen, wie machtlos sie dort sei.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_824.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)