Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 48. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Marie hob das Gesicht des jungen Mädchens empor und blickte ihr in die Augen. Sie hatte die Absicht, ihr einen scherzhaften Vorwurf zu machen, sie der Falschheit zu beschuldigen. Aber die Augen Hanna’s schauten mit einem so traurigen, hülfesuchenden Blicke zu ihr auf, daß sie schwieg. Sie begnügte sich, sie liebevoll zu umschlingen und ihr Haupt an ihrer Brust ruhen zu lassen. So standen sie, schweigend an einander geschmiegt, bis ein Klopfen an der Thür sie aufschreckte und der Diener meldete, daß man sie unten zum Thee erwarte.
Im Saal, wo die Lampen schon brannten und der Theetisch bereit stand, gingen Paula und Reinhard, der bald nach seiner Schwester angekommen war, im Gespräche auf und ab. Sie schienen über wichtige Dinge zu verhandeln, denn Paula sprach lebhaft und in sichtbarer Erregung. Max hörte ihr ernst und aufmerksam zu und war so in Anspruch genommen durch die Lebendigkeit seiner Gefährtin, daß er beim Eintritte der beiden Mädchen nur flüchtig aufblickte und sich mit einer Verbeugung aus der Ferne begnügte. Gleichwohl wurde das Gespräch nicht fortgesetzt, denn Kayser kam aus dem Nebenzimmer herbei, und man setzte sich. Reinhard hatte mit einiger Sorge an das Wiedersehen Hanna’s gedacht. Er war sich bewußt, daß er sich ihr gegenüber vom Augenblicke hatte hinreißen lassen, und mußte jetzt, wenn er gewissenhaft handeln sollte, doppelt auf seiner Hut sein, und das um so mehr, als er fühlte, daß der Zauber, dem er schon einmal erlegen, seine Wirkung auf ihn nicht verloren hatte. Hanna hatte ihren Platz hinter der silbernen Thee-Urne eingenommen und verwaltete schweigend ihr Amt als Wirthin. Um sie her wurde laut und heiter gesprochen, sie aber hörte nur das angstvolle Klopfen ihres Herzens, und die Stimme in ihrem Innern, die ihr zuflüsterte: „Sie haben sich verständigt – o, wenn doch dieser Tag erst zu Ende wäre, und ich allein sein könnte!“
Plötzlich fuhr sie zusammen. Man hatte ihren Namen genannt und aufblickend sah sie Aller Augen auf sich gerichtet.
„Machen Sie mir daraus keinen Vorwurf, Fräulein Marie!“ hörte sie ihren Onkel sagen, „ich bin unschuldig daran. Fragen Sie sie selbst, ob sie in meinem Hause Mangel leiden muß!“
„Aber Herr Kayser –“ begann Marie.
„Rechtfertige mich, Kind, gegen diese Anklage!“ fuhr Kayser in halb wirklich empfundenem Aerger fort. „Gieb Antwort: ich bin ein böser Onkel; ich lasse Dich hungern wie?“
„Aber lieber Herr Kayser!“
„Sie haben mich mit anklagenden Augen angesehen und das kann ich nicht ertragen. Sprich, Hanna, giebt man Dir genug zu essen und zu trinken?“
Paula und Max lachten; auch über Hanna’s Gesicht flog ein Lächeln, als sie sich zu Marie wandte.
„Ich versichere Dich, liebe Marie,“ sagte sie, „daß ich noch niemals in meinem Leben Gelegenheit gehabt habe, eine so gute Küche kennen zu lernen, wie jetzt. Und wenn ich diese Gelegenheit so schlecht benutze, so ist das lediglich meine eigene Schuld.“
„Aber man behandelt Dich schlecht; man vernachlässigt Dich?“ fuhr Kayser fort zu inquiriren.
„Durchaus nicht, Onkel!“
„Und wenn ich es auch nicht thue, so thut es doch die Dienerschaft. Da ist zum Beispiel die Hörig, unsere Wirthin. Sie läßt ihre üble Laune an Dir aus, sobald ich den Rücken wende. Sie sperrt Dich ein und pufft Dich, wenn Ihr allein seid – ist’s nicht so?“
„Aber Onkel!“ rief Hanna beleidigt.
„Du hast also keine Klage zu führen?“
„Nein, nein, nein!“
„Sie hören es, Fräulein Marie.“
„Herr Kayser, ich habe mir nie erlaubt, eine so lächerliche Beschuldigung auch nur zu denken, viel weniger auszusprechen.“
„Aber Niemand könnte es Ihnen verdenken, wenn Sie es gethan hätten. Hat es mir doch selbst Sorge gemacht, sie täglich bleicher und magerer werden zu sehen, während ich sie doch gerade habe herkommen lassen, damit sie frisch, roth und rund werde. Ich wollte in diesem Punkte rechte Ehre bei Ihnen einlegen; ich wollte Ihnen durch Thaten beweisen, daß ich besser bin, als meine Worte mitunter vermuthen lassen. Und nun muß sie gerade mir zum Trotze mich und meinen Tisch so in Mißcredit bringen.“
Man lachte über seinen Kummer, und Max sagte tröstend:
„Machen Sie sich hierüber keine Sorgen, lieber Freund! Sie selbst sind der beste Beweis von der Güte Ihres Kellers und der Nahrhaftigkeit Ihrer Küche. Ihr Anblick muß auch den ungläubigsten Zweifler zur besseren Erkenntniß bringen.“
Max lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte zum ersten Male an diesem Abend aufmerksam in Hanna’s Gesicht. Mit Schmerz sah er, daß dieses holde Gesicht noch zarter und durchsichtiger geworden war, als früher. „Wenn sie krank würde:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_801.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)