Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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No. 47. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Da höre ich den Wagen vorfahren,“ sagte Kayser. „Adieu, Kind! Plaudere ein Bischen mit Frau Hörig, wenn Dir die Zeit zu lang wird, und laß sie Dir etwas Gutes zum Diner bereiten, denn ich werde voraussichtlich in der Stadt speisen.“
Er nickte ihr zu und ging davon. Einige Minuten später hörte Hanna seinen Wagen vom Hofe fahren, und langsam und matt ging sie die Treppe hinauf und trat in ihr Zimmer. Wieder stand sie am Fenster und hörte auf das Rauschen des Windes und auf das Plätschern des Regens. Was sollte sie jetzt beginnen? – Sie holte eine Handarbeit herbei und fing an zu arbeiten. Bald aber fielen ihre Hände hinab, sie lehnte sich in den Stuhl zurück und überließ sich wieder ihren Gedanken.
Verhielt es sich wirklich so, wie ihr Oheim eben gesagt hatte? Und wenn es der Fall war – wenn nur unweibliche Kühnheit den Sieg davontrug – würde sie je den Muth haben, so um die Liebe eines Mannes zu werben? Heiße Gluth bedeckte ihre Wangen bei diesem Gedanken. Niemals, niemals! Keine rechte Frau, die dies könnte, und kein rechter Mann, der daran Gefallen fände! Auch Er müßte sich dadurch eher abgestoßen, als angezogen fühlen. Aber Paula war reich, und solide Interessen binden fester an einander als Liebe – so hatte ihr der Onkel gesagt. Und sie selbst besaß Nichts, gar Nichts auf der Welt. Wenn ein Königreich ihr eigen gewesen wäre, so hätte sie es Ihm – Ihm allein geben wollen. – –
Sie stand schnell auf und fuhr mit der Hand über die Augen. Nein, so ging es nicht. Solchen Gedanken durfte sie nicht nachhängen. Welch’ jammervolle, elende Schwäche! Hatte denn dieser graue Regentag und die Unthätigkeit, in welcher sie die letzten Tage zugebracht, sie so niedergedrückt, daß all ihr Stolz, all ihr tapferer Muth ihr darüber verloren gegangen war? – Wie konnte sie sich so gehen lassen! War es so weit mit ihr gekommen, daß sie sich Reichthümer wünschte, um sich die Liebe eines Mannes erkaufen zu können?
„Nein,“ sagte sie, während sie sich entschlossen erhob, „nein, es ist ganz gut so, wie es ist. Ich bin jung und gesund und habe etwas Tüchtiges gelernt. Der Onkel muß es zugeben, daß ich Lehrerin werde. Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend – das ist’s, was mir fehlt. Muth, Hanna, Muth! Wer tapfer das Leben angreift, wird damit fertig.“
Eine Viertelstunde später saß sie vor ihrem Schreibtische, eifrig damit beschäftigt einen regelrechten Studienplan für sich zu entwerfen. Sie wollte die Zeit bis zum Herbste, wo sie hoffte eine Stelle annehmen zu dürfen, noch gut ausnutzen, und dann würde sie von hier fortkommen, meinte sie – wenn möglich so weit fort, daß von Allem, was in und um Elmsleben geschieht, nicht oft Kunde zu ihr gelangen würde.
Die Stunden des Vormittags waren verronnen – Hanna hatte sie bereits ihrem Plane gemäß benutzt. Mit Wangen, welche sich über dem Eifer, womit sie sich an’s Werk gemacht, mit hellem Roth gefärbt hatten, saß sie so vertieft in die Uebertragung eines schwierigen englischen Essays in's Deutsche, daß sie es überhörte, wie ein Wagen unten vorfuhr und wie ein leichter Schritt die Treppe heraufkam. Erst das leise Oeffnen der Thür schreckte sie auf. Aber als sie sich rasch umwenden wollte, legten sich zwei warme, weiche Hände auf ihre Augen, und eine verstellte Stimme fragte, wer wohl der Gast sei?
„Sind Sie es, liebe Marie? Wie freundlich, daß Sie gekommen sind!“ rief Hanna.
„Leider nicht die liebe Marie, aber doch Eine, die Grüße von ihr bringt,“ sagte Paula, die Hände von Hanna’s Augen entfernend, dafür aber ihren Arm um den Hals des jungen Mädchens legend und das Gesicht desselben mit Küssen bedeckend. „Wird Paula weniger freundlich bewillkommnet werden?“
Im ersten Augenblicke wollte sich in Hanna’s Herzen ein leiser Widerwille gegen diese stürmische Liebkosung regen, im nächsten aber schämte sie sich solcher Regung, und sie tapfer niederkämpfend zeigte sie ihrem Gaste ein heiteres und freundliches Antlitz.
„Man wollte Sie herunterrufen, aber ich ließ es nicht zu,“ fuhr Paula fort. „Ich wollte Sie überraschen, Herzblättchen. – Dies also ist Ihre Wohnung? Wie reizend! Das Nest ist des Vögelchens würdig, das darin wohnt.“
Sie schaute lächelnd und neugierig in dem Raume umher und ließ dann ihr Auge bewundernd auf der Bewohnerin ruhen, welche die Feder niedergelegt hatte und langsam aufgestanden war.
„Wenn ich wirklich der Junker Paul wäre, den Natur in mir so schmählich verpfuscht hat, so wüßte ich wohl, um welche junge Dame ich werben würde,“ fuhr sie nach einer Weile fort, langsam umherschlendernd, wobei die lange Schleppe ihres schweren Seidenkleides geräuschvoll hinter ihr herrauschte. „Aber ich fürchte, Sie hätten mir einen Korb gegeben – ich wäre zu spät gekommen – nicht?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 785. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_785.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)